Why we Still Need Pictures

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Warum wir trotzdem Bilder brauchen

Es gibt gute Gründe, das Totenbild von Usama Bin Ladin nicht zu zeigen: Wer aber auf Fotografien deshalb verzichten will, weil sie manipulierbar sind, hält den Betrachter zu Unrecht für naiv. Die Debatte befindet sich in einer Schieflage.

Wer am Tag nach der Stürmung des Hauses in Abbottabad in die Zeitung schaute, um eine bildliche Vorstellung von dem zu bekommen, was sich dort zugetragen hat, musste sich die Augen reiben. In der F.A.Z. erschien auf der ersten Seite ein extrem unscharfes abstraktes orange-braunes Bild. Zu erkennen war nichts, außer der Aufschrift „News Exclusive“. Erst durch den Untertitel verstand man, dass es sich um ein Standbild aus einer Videoaufnahme des Zimmers handelte, in dem Usama Bin Ladin erschossen wurde. In der Wand klaffte ein Loch, stand dort zu lesen. Doch was dieses Loch riss, ist bis heute nicht klar.

Was hier im Dunklen blieb, wurde auch wenige Tage später in einem anderen mittlerweile berühmten Foto nicht deutlicher. Das Bild war zur gleichen Zeit, 11.000 Kilometer entfernt, an einem ebenso hochbrisanten Ort entstanden. Man sah die angespannten Gesichter des amerikanischen Präsidenten Obama und seiner Sicherheitsberater, während sie im abhörsicheren „Situation Room“ im Weißen Haus in Washington der Operation „Geronimo“ in Abbottabad folgten, die live von einer Videokamera am Helm eines Soldaten aufgezeichnet und übertragen wurde. Wie so oft, ranken sich auch um dieses Foto mittlerweile endlose Spekulationen: Ist Hillary Clintons Handbewegung zum Mund eine Geste der Angst? Was zeigen die Fotos auf dem Tisch? Warum trägt Obama keine Krawatte und wer ist die junge Frau im Hintergrund? Ja, was erzählen die Kaffeepappbecher über die Versammelten? Doch das Entscheidende an dem Bild ist, dass wir nicht sehen können, was die im Raum Anwesenden vor Augen haben, so dass wir nicht verstehen können, was sie beobachten und wissen.

Kein Bild könnte diesem Verlangen gerecht werden

Keines dieser Fotos zeigt das Ereignis, um das es in der Todesnacht ging und das die Welt zu sehen verlangt. Alles sei eine große Lüge, sagen die einen, die glauben, dass der Al-Qaida Gründer längst wieder anderswo abgetaucht ist, und es deshalb auch gar kein Totenbild von ihm geben könne. Man solle das Foto endlich veröffentlichen, fordern die anderen, denn es führe vor Augen, was Bin Ladin wirklich war: Kein heiliger Krieger, sondern ein armseliger Massenmörder. Das Bild zeige, so schreibt die Washington Post, dass der Terrorist am Ende bekommen habe, was er verdiene.

Doch kein Totenbild von Bin Ladin könnte diesen Verlangen jemals gerecht werden. Jeder weiß, dass Fotografien im Zeitalter der digitalen Bearbeitung schnell, einfach und fast spurlos zu manipulieren sind und tatsächlich kursierten ja schon kurze Zeit nach der Stürmung des Anwesens in Pakistan gefälschte Bilder vom erschossenen Terroristenführer im Netz. In Wirklichkeit geht es vermutlich auch gar nicht um die Frage des Beweises: Dass Bilder lügen können, ist inzwischen eine Binsenweisheit.

Allerdings ist es möglich, mit Bildern sowohl an Tätern Rache zu üben wie auch Tote zu rächen – so als handele es sich um Schand- oder Opferbilder. Das Foto des verlausten Saddam Hussein nach seiner Gefangennahme war ein solches Schandbild, während Terroristenvideos im Internet mit den Folterbildern aus Abu Ghraib neue Mitglieder rekrutieren. Beide Weisen des Bildgebrauchs wollte Obama nach eigenem Bekunden mit der Sperre verhindern, die er über die Veröffentlichung des Totenbildes von Bin Ladin verhängte. In seiner umsichtigen Begründung vom 4. Mai erklärte er, dass man weder mit den Bildern als Trophäen protzen wolle, noch der in ihnen sichtbare gewaltsame Tod als Grundlage für eine Märtyrerkult und weitere Gewalt dienen solle. Man kann ihm nur zustimmen: Dieses Bild brauchen wir nicht.

Die Bilder der Mondlandung haben auch nicht alle überzeugt

Doch auch wenn es gute Gründe dafür gibt, das Totenbild von Bin Ladin nicht zu veröffentlichen, ist die Debatte darüber in eine Schieflage geraten. Der Nachdruck, mit dem die Gegner der Veröffentlichung darauf hinweisen, dass Bilder keine Beweise seien, ja dass sie sogar missbraucht werden können, verstellt den Blick darauf, dass wir natürlich Bilder benötigen, wenn es um Ereignisse wie dieses geht.

Dass Bilder lügen können, unterscheidet sie nicht von Texten. Jeder weiß, dass auch sprachlich verfasste Berichte gefälscht und missbraucht werden, und doch kämen wir wohl nicht auf die Idee, auf eine Schilderung solcher Ereignisse wie in Abbottabad verzichten zu wollen. Anders gesagt: Die Naivität, anzunehmen, dass Fotografien unkritisch als Beweise angesehen werden, scheint fast bei jenen am größten zu sein, die diesen Bilderglauben anderen unterstellen. Auch die Fotografien von der Mondlandung beispielsweise aus dem Jahr 1969 haben keineswegs jeden davon überzeugt, dass diese wirklich stattfand. Im Gegenteil, sie sind zum Ausgangspunkt von zahlreichen Verschwörungstheorien geworden. Das Science Museum in London hat der These, die Bilder seien in einem Filmstudio entstanden, sogar einen eigenen Platz in der Ausstellung eingeräumt. Fotografien werden offensichtlich von ihren Konsumenten ebenso wie Texte mit Skepsis auf ihre Wahrscheinlichkeit hin befragt. Sie sind Teil der Berichterstattung, doch ihre Bedeutung erschöpft sich nicht in der Tatsache, dass sie manipuliert werden können.

Ganz menschlich grausam

Warum brauchen wir also Bilder? Nicht um sie als Mittel zu entweder sinnlosen oder niederen Zwecken zu benutzen, sondern um das Leben der anderen besser verstehen zu können. Wir brauchen sie zur reinen Anschauung, nicht weil wir einen unmittelbaren direkten Nutzen damit verfolgen können, wie auch immer rational begründet (Beweis) oder emotional motiviert (Sensationslust, Rache, Schändung etc.). Dazu bedarf es nicht das Bild des toten Usama Bin Ladins, sondern Fotos, die die Umstände seiner Existenz vor dem Kommandoeinsatz der Navy Seals zeigen. Wenn wir dachten, dass der gefährlichste Mann der Welt wie ein wildes Tier in den Höhlen von Tora Bora hauste, sehen wir nun eine mehr oder weniger gewöhnliche zweistöckige Villa. Wo wir provisorische zeltlagerähnliche Zustände erwartet hätten, erfahren wir von einem Leben mit Frauen und Kindern, von einer Nacht im Doppelbett und selbstverliebten Abenden im Sessel vor den eigenen Videobotschaften, in einem Haus, das ansonsten kein Telefon und keinen Internetanschluss hatte. Und man begreift auf einmal, dass das Monster ganz menschlich grausam war. Nicht weniger und nicht mehr.

Das vielleicht eindrücklichste Bild, das vom Sieg über Saddam Hussein veröffentlicht wurde, stammte nicht von seiner Festnahme, sondern von der Beschlagnahmung seines Palastes in Bagdad im April 2003. Man sah schwerbewaffnete amerikanische Soldaten, die breitbeinig und selbstgefällig im protzigen Billigimitatdekor des Palastes herumlungerten. Erstaunlich flegelhaft erschien das Verhalten der Armee und erstaunlich billig die Innenausstattung für einen mächtigen Tyrannen. Es sind die unbedeutenden Details, nicht die in Szene gesetzten großen Ereignisse, auf die es ankommt. Genau dafür brauchen wir nach wie vor besonders die fotografischen Bilder.

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