Has the American Dream Faded Away?

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Ist der American Dream nun ausgeträumt?

ERICH VOGT (Die Presse)

Der Glaube an ein Amerika, in dem der soziale Ausgleich gelebt wird und menschliche Würde unabhängig von Einkommen oder ethnischer Herkunft für alle gleichermaßen gilt, rückt in immer weitere Ferne.

Als Präsident Barack Obama die Meldung von der Tötung Osama bin Ladens durch ein Kommando der Navy Seals bekannt gab, war für einen Augenblick Amerikas Welt wieder in Ordnung. Der Tod des Spiritus Rector des Terror-Netzwerks al-Qaida brachte das Land wie 9/11 wieder zusammen. Zumindest für gut zwei Wochen.

Inzwischen hat die raue Wirklichkeit Amerika wieder eingeholt. Seit dem 16.Mai kann die US-Regierung keine neuen Kredite mehr aufnehmen und frisches Geld leihen. Weigert sich der Kongress, die Schuldengrenze von derzeit 14.294 Milliarden Dollar zu erhöhen, wird Amerika seine Schulden im In- und Ausland nicht mehr bedienen können. Schon warnen Präsident und Notenbankchef vor einer erneuten Rezession und Finanzkrise. Die USA im selben Boot mit Griechenland, Irland und Portugal? Eigentlich unvorstellbar.

Wachsende Kluft Arm-Reich

In Amerika rumort es. Anders als alle Wirtschaftskrisen nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Weltfinanzkrise von 2008 nach ihrer Überwindung keine deutlichen Einkommens- und Einstellungsschübe gebracht. 18Monate nach ihrem Ausbruch stellte das „Wall Street Journal“ eine Produktivitätssteigerung von 5,2Prozent fest, die Einkommen der Arbeitnehmer stiegen jedoch lediglich um 0,3Prozent. Das bedeutet, dass lediglich sechs Prozent der Produktivitätssteigerungen an die Arbeitnehmer weitergegeben wurden.

Die verbleibenden 94Prozent mit einem Buchwert von zwei Billionen Dollar wurden an Unternehmenseigentümer, Management und Aktienhalter verteilt sowie in groß angelegte Aktienrückkaufaktionen gesteckt.

Auch die Bilanz auf dem Arbeitsmarkt ist alles andere als erfreulich. Von den 40Prozent der 2008/2009 eingesparten Stellen im höheren Einkommenssegment wurden lediglich 14Prozent nach der Krise wieder besetzt.

Gänzlich anders das Bild im niedrigen Einkommensbereich. Von diesen Stellen wurden bei Ausbruch der Krise 23Prozent eingefroren; 18Monate danach machten diese jedoch 49Prozent aller neu geschaffenen Stellen aus. Die stärksten Stellenzuwachsraten sind beim Einzelhandel und Verkauf sowie im Lebensmittelbereich registriert worden. Hier beträgt der durchschnittliche Stundenlohn weniger als zehn Dollar.

Die immer stärker auseinanderklaffende Einkommensschere und eine bis zu 30-prozentige Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen stellen derzeit nicht nur die wirtschaftliche Existenz von Millionen Menschen zur Disposition, sie stellen ebenso eine der Grundfesten des Selbstverständnisses der Amerikaner infrage: Dass es ungeachtet zyklischer Aufs und Abs den nachfolgenden Generationen besser gehen wird als der eigenen – und der American Dream damit fortlebt.

Gewerkschaftsfreier Privatsektor

Wie ist es zu diesen dramatischen Verschiebungen und der heftigen Opposition gegen eine auf Ausgleich ausgerichtete Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gekommen? Sicherlich trägt der Umstand, dass heute fast der ganze Privatsektor gewerkschaftsfrei ist, zur Verschärfung der Arbeitsmarktsituation erheblich bei. Lediglich noch sieben Prozent der Arbeiter und Angestellten in der Privatindustrie sind Gewerkschaftsmitglieder.

Zum Wohle der Anteilseigner

In diesem Umfeld kann sich die vom einstigen legendären General-Electric-Boss Jack Welch vorgegebene Maxime, dass die höchste Managementveranwortung die Aktienwertsteigerung zum Wohle der Anteilseigner sein müsse, voll entfalten. Noch ist nicht ausgemacht, welche Wertephilosophie am Ende obsiegen wird.

Konservative Republikaner und Demokraten haben sich nie mit dem sozialen Kontrakt der demokratischen Präsidenten Franklin Roosevelt und Lyndon B. Johnson anfreunden können. Die kollektive Verantwortung der Gesellschaft für die Ärmeren und Schwächeren war für sie gleichbedeutend mit unamerikanischen, sozialistischen Umtrieben einer irregeleiteten politischen Nomenklatura. Sie können sich auch nicht mit der Sinnhaftigkeit oder Notwendigkeit von Steuererhöhungen abfinden. Dabei ist klar, dass weder der Schuldenberg noch das Haushaltsdefizit durch Kürzungen allein abgebaut werden kann. Die Mehrheit der Bevölkerung ist dabei im Prinzip nicht gegen Steuererhöhungen.

Solange auch die Reichen zur Kasse gebeten werden und ihren Beitrag zur Verbesserung gesamtgesellschaftlicher Güter wie Bildung, Gesundheitsvor- und Fürsorge, Konsolidierung des Sozialversicherungswesens sowie am Abbau der Staatsschulden leisten, kann Washington durchaus mit einer breiten Unterstützung rechnen.

Als der Wahlkämpfer Obama noch engagierte Reden über die Zukunft des Landes hielt, ging ein Ruck durchs Land. Der Glaube aber an ein Amerika, in dem der soziale Ausgleich gelebt wird und menschliche Würde unabhängig von Einkommen oder ethnischer Herkunft für alle gleichermaßen gilt, ist inzwischen wieder in weite Ferne gerückt.

Kampf um das Erbe des Landes

Im Amerika des Jahres 2011 herrscht ein unterhalb der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmungsgrenze ablaufender Klassenkampf, ein Kampf ums existenzielle Überleben und das Erbe des Landes. Wann und wie sich dieser Kampf offen entladen wird, darüber kann nur spekuliert werden.

Die Nomenklatura in den USA hat es wiederholt versäumt, die um ihren American Dream Kämpfenden einzubinden in die sich verändernden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen. Als 1968 in Washington unweit des Weißen Hauses Rauchschwaden aufstiegen und zu landesweiten Unruhen führten, waren es Afroamerikaner, die die damals bestehende Ungleichheit nicht länger tolerieren konnten.

Das ist heute anders. Heute sind es in ihrer Mehrheit weiße Amerikaner, die sich gegen die dramatisch ausbreitende Ungleichheit auflehnen. Auch sie zeichnet eine potenziell große Gewaltbereitschaft aus. Dass von ihnen im Zuge der Finanzkrise von 2008 erstmals demonstrativ die Reichen in ihren Villen bedrängt wurden, zeigte die neue Stoßrichtung. Das verheißt nichts Gutes.

Was Amerika jetzt mehr als alles andere braucht, ist ein breit angelegter Dialog über einen neuen, auf Ausgleich ausgerichteten Gesellschaftsvertrag. Der langsam auf Touren kommende Präsidentschaftswahlkampf könnte für diesen Dialog die beste aller möglichen Plattformen bilden.

Ob die Kandidaten ihn nutzen werden, werden die nächsten Monate zeigen.

(“Die Presse”, Print-Ausgabe, 26.05.2011)

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