Sarah Palin verkörpert den verlorenen Westen
Von Anjana Shrivastava |
14.06.2011
Die USA müssen beginnen, den Blick nach Osten zu richten und von der alten Welt zu lernen. Denn die alte Frontiergesellschaft, das unermüdliche Go West, funktioniert nicht mehr.
Wer auch immer als republikanischer Favorit unter den Präsidentschaftskandidaten gegen Barack Obama antreten will, muss diese eine These mit lauten Hammerschlägen an die Tür des Weißen Hauses nageln: Amerika ist einzigartig. Denn genau dieser Grundsatz des „American Exceptionalism“ wird nach Ansicht vieler Konservativer vom Weltbürger Barack Obama mit Füßen getreten.
Politiker wie Palin und Gingrich wollen auch im 21. Jahrhundert am American Way festhalten: In Amerika sei der Staat auf einzigartige Weise begrenzt und beschränkt, in Bann gehalten durch die von der gottgegebenen Macht der Bürger.
Diese Kraft der Individuen wird von der Verfassung geschützt und geheiligt. Man kann sie nicht einfach beiseiteschieben, argumentieren die Konservativen, wie etwa in Europa oder China, wo der Staat mit seinen Bürgern schon immer leichtes Spiel hatte.
Doch dieser amerikanische Sonderweg wurde nicht immer so abstrakt und prinzipiell begründet wie heute. Lange faszinierte die Idee der Frontierbewegung als Erklärung für die nationale Einzigartigkeit: Amerika war anders, weil es grenzenlos war.
Terra incognita des Westens
Freies, billiges Neuland war stets vorhanden, die Natur stellte schier endlose Ressourcen zur Verfügung – vorausgesetzt, man war mutig, stark und risikofreudig genug, die Terra incognita des Westens zu erobern.
Der Harvard-Historiker Frederick Jackson Turner erklärte vor hundert Jahren, dass die eigentliche amerikanische Republik erst an den Westgrenzen geboren wurde: zunächst vor dem Alleghanygebirge, dann am Mississippi und schließlich vor den Rocky Mountains.
Die Frontier, die immer weiter nach Westen verschobene Grenze, war stets auch eine Grenze von Leben und Tod, Glück und Unglück. Hier herrschte der Geist der Neuerfindung, das Expansive, das Ruhe- und Respektlose, das Urdemokratische, die Gewalt ebenso wie die Freiheitsliebe.
Doch wenn Turners These stimmt, hat Amerika ein Problem. Die Frontiergesellschaft ist nur noch Mythos, das Land längst verteilt. Es gibt heute keinen Westen mehr, wo jedermann alles versuchen und alles werden kann, wo die Natur auch dem Ärmsten Kredit gibt.
Mehr Staat war nicht nötig
Doch war es eben jenes weite Hinterland, jene faktische Gleichheit durch den verbreiteten Landbesitz, die den in seinem Reglementierungswillen beschränkten Staat hervorbrachte. Mehr war nicht möglich – und auch nicht nötig.
Den schmalen, begrenzten Staat gibt es noch immer. Doch die Voraussetzungen seines Gelingens sind verschwunden. Die Phantomschmerzen, die das moderne Amerika durch den Verlust der Frontiergesellschaft plagen, erklären die Faszination, die von Sarah Palin ausgeht. Sie vermittelt den verlorenen Westen in mehr als nur Wort und Schrift, sie verkörpert ihn in Fleisch und Blut.
Über dem alten Westen thront sie wie die geschminkte Dame hinter dem Tresen eines leeren Saloons, wie die Jägerin mit dem geschulterten Gewehr über dem erlegten Großwild, wie die Lehrerin in einem Einraumschulhaus. Sarah Palin lebt, aber der Westen ist tot.
In Skagway ist sie aufgewachsen, einer alaskischen Kleinstadt, die man seit dem Klondike Gold Rush das „Las Vegas des Nordens“ nannte. Als Palins Eltern dort ankamen, lebte noch die Legende der Frontierzeit in der Main Street.
„Drill, baby, drill“
In ihrer Autobiografie schreibt Palin: „Gerade reich gewordene Menschen besuchten die Stadt, um zu feiern, und die gerade pleitegegangenen tranken dort ihre Sorgen weg. Die Klaviermusik und das Lachen der Tänzerinnen ergossen sich auf die alten erhöhten Holzbrettergehsteige …“
Wahlen und Wahlkämpfe in den USA
Als junge Ehefrau und Mutter erlebte Sarah Palin den Ölboom auf Alaskas North Slope sowie die Ölkatastrophe der „Exxon Valdez“, als 53 Millionen Gallonen Rohöl in das Meer strömten. Als Gouverneurin galt Palin als harte Kontrahentin der Energielobby, doch als Vizepräsidentschaftskandidatin schuf sie die Parole „Drill, baby, drill“.
Heute, da eine Gallone Benzin vier Dollar kostet und die Arbeitslosigkeit bei neun Prozent liegt, will sogar Präsident Obama trotz der BP-Katastrophe nach heimischem Öl bohren: eine Mini-Frontier. Doch niemand glaubt, dass man mit heimischem Öl oder irgendwo schlummerndem Gold Amerikas Problemen wirklich beikommen könnte.
Die Durchhalteparolen von Palin stoßen nachweislich nur noch bei Ungebildeten und Glücklosen auf ein Echo. Sarah Palins größte Fans sind vor allem jene Menschen, die nicht viel mehr besitzen als ihren unerschütterlichen Glauben an der Nation.
Die wirklichen Vertreter des Western-Ethos
Denn die wirklich erfolgreichen Vertreter des Western-Ethos, wie etwa die Harvard-Studienabbrecher Bill Gates oder Mark Zuckerberg, die ja wie kein anderer das Grenzenlose, das Urdemokratische und Informelle des Westens darstellen, unterstützen nicht etwa Palin, sondern die Schulreformen von Barack Obama.
Sie befürchten, dass Amerika ohne eine radikale Schulreform seine technologische Spitzenposition kaum halten kann. Doch bis jetzt gelingt die Schulreform kaum. Der ehemalige New Yorker Bürgermeister Ed Koch kritisierte, dass man sich nicht einfach wie bei der Gesundheitsreform an europäischen Vorbildern orientiert habe.
Stattdessen wurden Lehrer, Eltern und Schüler durch hektische und oft willkürliche Neuregelungen verunsichert. Die amerikanische Elite kennt wohl die Probleme des Landes, aber scheinbar weiß sie nicht, wie sie zu lösen sind.
Es ist kein echter Westen mehr da
Das wäre nun die Ironie: Amerikas Frontier liegt jetzt dicht an dicht mit der alten Welt, die eben durch den Kontakt mit dem amerikanischen Individualismus wirtschaftlich stark geworden ist. Nun gilt es, dass Amerika vom Rest der Welt lernt. Das wird nicht leicht.
Denn alle Instinkte, alle soziale Techniken deklamieren: „Go West, young man.“ Aber wenn kein echter Westen mehr da ist, sondern nur die globale Konkurrenz in allen Himmelsrichtungen, wirkt das instinktive Beharren auf Einzigartigkeit leider erstaunlich weltfremd.
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