Minnesota Shows Washington What Might Happen

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Der Bundesstaat zeigt der US-Regierung, wie’s gehen könnte.

von Matthias Ruch

18.07.2011

In Minnesota endete der Haushaltsstreit zwischen Regierung und Opposition mit einem Stillstand vieler Behörden. Ein fatales Signal für Washington. Saint Paul Anzeige

Sie werden gefeiert, als hätten sie gerade ein Weltmeisterschaftsfinale für die USA gewonnen. Seit drei Stunden stehen sie nun schon hier an der Lafayette Road und lassen sich aus den vorbeifahrenden Autos bejubeln, beklatschen und behupen. Busfahrer recken während der Fahrt die Fäuste in die Höhe, die Feuerwehr lässt ihre Sirenen heulen. “Die Unterstützung ist riesig”, schreit Steven Kuehl gegen den Lärm an. Dabei halten er und seine Kollegen eigentlich nur ein paar Plakate in die Sommerluft. “Tax the rich!”, steht drauf und: “We want to work!” In Minnesotas Hauptstadt Saint Paul machen Staatsbedienstete an einer Straßenecke ihren Unmut über ihre untätigen Politiker deutlich An den zentralen Plätzen der Bundesstaatshauptstadt Saint Paul stehen sie seit zwei Wochen fast pausenlos und fordern ihre Regierung auf, endlich zu handeln. Die gesamten USA, das wissen sie, schauen inzwischen auf den absurden Haushaltskrieg im sonst so friedlichen Bundesstaat Minnesota. Und Präsident Barack Obama kann hier schon einmal erleben, was ihm selbst in Washington blüht.

Seit dem 1. Juli ist die Regierung in Saint Paul nicht mehr zahlungsfähig, im Haushalt klafft akut ein Loch von 1,4 Mrd. Dollar. Zahlreiche Behörden sind seitdem geschlossen, zwei Drittel aller Beamten wurden in unbezahlten Zwangsurlaub geschickt. Alkohollizenzen und Führerscheine werden nicht mehr ausgestellt, Lotterielose nicht mehr verkauft, Baustellen nicht mehr bebaut. Selbst die Nationalparks und die Rennstrecke sind geschlossen. Können die USA pleite gehen?

“Den Finanzminister kommt dieser Stillstand teuer zu stehen”, rechnet Thomas Stinson, Ökonom an der Universität von Minnesota, vor. “Die Lotterie spielt rund 10 Mio. Dollar im Monat ein, weitere 4 Mio. kommen aus den Parks.” Dass auch die Beamten, die das Geld säumiger Steuerzahler eintreiben, nicht mehr arbeiten, koste sogar 50 Mio. Dollar. “Außerdem geht das Aufkommen aus Einkommensteuer und Mehrwertsteuer spürbar zurück.” Dass Gouverneur Mark Dayton und ein Teil der Abgeordneten nun freiwillig auf ihre Bezüge verzichten, fällt dabei kaum ins Gewicht.

Was auf den Straßen von Minneapolis und Saint Paul zusätzlich für Unmut sorgt, sind drohende Engpässe beim Bier- und Schnapsnachschub. Da die Schanklizenzen jedes Jahr verlängert werden müssen, die Behörde aber geschlossen ist, müssen erste Bars bereits schließen. Seit einer Woche darf sogar der Braukonzern MillerCoors kein Bier mehr verkaufen – die Lieferlizenz ist ausgelaufen.

“Schlimmer noch als der finanzielle Schaden ist der Verlust der Reputation”, sagt Stinson. “Vor zehn Jahren galt Minnesota noch als wirtschaftlich gesund und finanzpolitisch nachhaltig. Die Leute hier haben fast alle deutsche und skandinavische Wurzeln. Wir waren bekannt für gute Bildung und hohe Produktivität. Die aktuelle Entwicklung aber dürfte nun auch private Investoren abschrecken.”

Da die Politik keinen Ausweg aus der Misere findet, wurde bereits vor Monaten ein sechsköpfiger Expertenrat gebildet. “Wir schlagen deutliche Kürzungen der Staatsausgaben und moderat höhere Steuern für die Großverdiener vor”, sagt Jay Kiedrowski, der in Minnesota in den 80er-Jahren Finanzminister war und danach zur Großbank Wells Fargo wechselte: “Leider konnten sich die Republikaner mit unserem Vorschlag nicht anfreunden.”

Tricks, die Obama bislang rigoros ablehnte

Für Kiedrowski sind vor allem die Konservativen schuld an der Misere – in Saint Paul und in Washington. “Den Leuten von der Tea Party geht es gar nicht darum, den Staat zu retten”, schimpft er. “Das sind Ideologen oder Fundamentalisten, wie Michelle Bachmann. Für die sind höhere Steuern schlicht eine Sünde. Der Shutdown in Minnesota ist im Grunde genau das, was sie fordern: sofortiger Ausgabenstopp und Beamte nach Hause schicken.

Genau diese Haltung bringt Steven Kuehl in Rage. Der 59-Jährige mit der hohen Stirn und dem rotbraunen Schnauzbart gehört zu den Organisatoren der täglichen Demonstrationen in Saint Paul. “Spende Blut, rette Leben” steht auf seinem T-Shirt. “Das ist doppelsinnig”, erklärt er grimmig. “Das gilt jetzt auch für die Reichen und für ihr Geld.” Kuehl arbeitet seit vielen Jahren für die Verkehrsbehörde, doch seit diese geschlossen wurde, hat er viel Zeit zum Demonstrieren. “Wir halten so lange durch, bis die Politiker eine Einigung zustande bringen”, schwört er. “Egal, wie lange das noch dauert.”

Das war am Mittwochabend. 24 Stunden später verkündet Gouverneur Dayton unverhofft eine Einigung mit der Opposition. Die Republikaner, die über die Mehrheit im Abgeordnetenhaus verfügen und bislang jeden Kompromiss strikt abgelehnt hatten, haben sich unter dem Druck der Straße also doch bewegt. “Keine Partei ist mit diesem Deal wirklich glücklich”, räumt der Gouverneur sofort ein, noch bevor Details bekannt werden: “So ist das eben mit einem Kompromiss.”

23000 Beamte, 16.000 Bauarbeiter und ein paar Dutzend Kneipenwirte atmen auf. Sie alle wollen endlich wieder Geld verdienen, und kaum einer hat Verständnis für die Totalblockade der Konservativen. In den nächsten Tagen will Dayton den Deal mit den Republikanern durch das Staatsparlament peitschen. “Wir arbeiten jetzt rund um die Uhr, damit die Lichter in Minnesota möglichst bald wieder angehen und alle wieder arbeiten können”, verspricht er. Vorausgesetzt, die Einigung hält.

Für Präsident Obama, der in Washington bislang vergeblich versucht, der konservativen Mehrheit der Abgeordneten einen Kompromiss abzuringen, kann die Einigung aus Minnesota indes kaum als Vorbild dienen. Was Gouverneur Dayton öffentlich als “Kompromiss” verkauft, ist in Wahrheit nur ein Spiel auf Zeit. Und ein politischer Triumph für die Republikaner. Sie haben ihre zentrale Forderung durchgesetzt: Es wird keine höheren Steuern geben.

Keinen Cent, für niemanden! Zugleich werden auch die Sozialleistungen in Minnesota nicht wirklich gekürzt, stattdessen zieht man sich mit finanztechnischen Tricks aus der Affäre. Erste Abgeordnete beider Lager haben daher am Wochenende bereits Widerstand angekündigt.

Schon heute warnen unabhängige Haushaltsexperten vor dramatischen Belastungen in den kommenden Jahren. Für 700 Mio. Dollar will Minnesota nun Bonds an Investoren verkaufen, die durch Zahlungen der Tabakindustrie refinanziert werden sollen. Die Zigarettenkonzerne müssen jährlich rund 180 Mio. Dollar als Beitrag für ärztliche Behandlungskosten an Minnesota zahlen.

Da die Bonds verzinst werden, wird ein erheblicher Teil dieser Einnahmen in den kommenden Jahren weitergereicht an die Investoren. Auch die 700 Mio. Dollar, die nun vorerst nicht an die Schulen ausgezahlt werden, müssen im nächsten Haushaltsjahr nachgezahlt werden. “Kicking the can down the road”, nennt man diese Verschleppungstaktik in den USA. Aufgeschoben, nicht aufgehoben.

Teil 3: Die Schmerzgrenze ist erreicht

Genau solche Tricks lehnt Präsident Obama in Washington bislang rigoros ab, doch der faule Kompromiss aus Minnesota sendet ein fatales Signal: Die Republikaner sitzen am längeren Hebel. Mit ihrer Mehrheit im Abgeordnetenhaus können sie den Präsidenten nach Belieben zappeln lassen. Sie brauchen keinen Kompromiss, die Zeit spielt für sie.

Und diese Zeit wird nun verdammt knapp, für Obama und für die USA. Ebenso wie ihre Parteifreunde in Minnesota fordern auch die Republikaner in Washington tiefe Einschnitte in das soziale System. Ebenso wie Gouverneur Dayton ist auch Präsident Obama bereit, Zugeständnisse zu machen. Und ebenso wie Dayton will auch Obama die Steuern für die Reichen maßvoll anheben. Nicht zuletzt wegen seines Versprechens, die wohlhabendsten zwei Prozent seiner Bürger etwas mehr zur Kasse zu bitten, war Dayton in Minnesota zum Gouverneur gewählt worden. Dieses Versprechen hat er nun gebrochen.

Ebenso wie in Washington, wo Präsident George W. Bush seinem Nachfolger bereits einen Schuldenberg vererbt hatte, geht auch die Misere in Minnesota maßgeblich auf die vorherige Regierung zurück. “Acht Jahre lang haben die Republikaner hier allein regiert und haben vor allem ihre Anti-Steuer-Politik umgesetzt. Durch den Sieg der Tea Party bei den Wahlen im November hat sich dieser Trend noch verschärft”, sagt Kiedrowski. “Die Leute sind hier zwar konservativ und legen großen Wert auf Freiheit, aber das ging ihnen doch zu weit. Deshalb haben sie dann Dayton gewählt.”

Der Stillstand ist damit zementiert. Beide politischen Lager blockieren sich gegenseitig, dringende Probleme werden vertagt, Neuwahlen sind nicht zulässig. “Dayton muss sich erst 2014 zur Wiederwahl stellen, aber Obama schon 2012”, sagt Kiedrowski. “Für ihn geht es jetzt wirklich um alles.”

Mit seinem faulen Kompromiss, darin sind sich alle politischen Beobachter einig, hat Dayton dem Präsidenten keinen Gefallen getan. “Ich halte ein Scheitern der Verhandlungen in Washington durchaus für möglich”, warnt Thomas Stinson von der Universität von Minnesota. “Dann werden die Zinsen steigen, das Wachstum wird dramatisch geschwächt, und das wird erhebliche Effekte auf die Börse haben. Die Kurse für Versicherungen gegen Kreditausfälle gehen bereits jetzt nach oben.”

Für Jay Kiedrowski ist die Schmerzgrenze damit erreicht: “Wenn hier in Saint Paul die Lichter ausgehen, ist das nur ein regionales Problem”, sagt er. “Wenn aber die Regierung der Vereinigten Staaten nicht mehr zahlen könnte, würde dies die gesamte Weltwirtschaft durcheinanderwirbeln. So weit dürfen es die Republikaner wirklich nicht treiben.”

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