America Held Hostage

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US-Schuldenschlacht

Amerika in Geiselhaft

Von Marc Hujer und Gregor Peter Schmitz, Washington

Es war eine Woche des Schreckens: Im US-Kongress liefern sich Demokraten und Republikaner eine Schlacht um die Zukunft Amerikas. Doch eine einfache Lösung gibt es nicht – das Parlament hat sich in Geiselhaft nehmen lassen.

Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um Einigkeit zu demonstrieren, nach all dem Chaos und Stillstand der letzten Tage. Der US-Kongress muss den Beweis erbringen, dass er doch noch zu etwas Großem fähig ist, dass er Amerika nicht einfach bankrott gehen lässt, nur weil sich rechthaberische Parteien auf keinen Kompromiss im Schuldenstreit einigen können. Und deshalb hat es vielleicht auch einen therapeutischen Wert, dass dieses Wochenende in Washington mit einer Abstimmung über Gesetz “HR 1975” beginnt.

Es ist Samstag, 13 Uhr, als die Abgeordneten fürs Wochenende ins Repräsentantenhaus gerufen werden, um eine Lösung im Schuldenstreit zu finden, aber zuerst müssen sie über “HR 1975” abstimmen, ein Gesetz, in dem es um die Namensänderung eines Postamts geht, genauer gesagt des Postamts auf dem 281 East Colorado Boulevard in Pasadena, Kalifornien, das künftig nicht mehr einfach nur Postamt heißen soll, sondern “First Lieutenant Oliver Goodall Post Office Building”. Und das geht nicht ohne den Segen des US-Parlaments.

416 Ja, 0 Nein

416 Abgeordnete haben sich eingefunden, und zum ersten Mal seit Wochen, für einen kurzen Moment, gibt es keine Debatte, keine Meinungsunterschiede zwischen Demokraten und Republikanern, kein abweichendes Votum der Tea-Party-Fraktion. Es wird einfach nur abgestimmt. Und als die Stimmen kurz danach ausgezählt werden, steht eine Viertelstunde später ein Ergebnis auf der Tafel, das undenkbar geworden schien, ein Ergebnis absoluter Einstimmigkeit: 416 Ja-Stimmen und kein einziges Nein.

Es ist ein ungewöhnlicher Beginn für ein Wochenende, an dem es um die Zukunft Amerikas geht, um die existentielle Frage, ob die USA, die letzte verbleibende Supermacht, in der kommenden Woche noch die Rechnungen zahlen können. Aber es passt zu der Stimmung im US-Kongress an diesem Samstagnachmittag, dem Galgenhumor, der überall herrscht, von den Sicherheitsbeamten angefangen, die Eingänge und Flure kontrollieren, bis zu Bediensteten, die seit 11 Uhr morgens in der Kantinenküche stehen und, wenn sie Glück haben, um acht Uhr abends nach Hause gehen dürfen. 16 Stunden darf eine Schicht maximal dauern, klagt ein Sicherheitsbeamter. Das schmerzt alle, vor allem am Samstag. Alles kann immer nur schlimmer kommen.

Bringt dieses Wochenende den Durchbruch? Geben die Prinzipienreiter der Tea Party unter dem öffentlichen Druck, der öffentlichen Empörung doch noch nach? Setzt sich der Geist durch, der sich, für einen Moment, bei Gesetz “HR 1975” gezeigt hat?

Da, der Daumen geht hoch!

Es sind leise, vorsichtige Hoffnungen, die alle Beteiligten durch diesen Samstag in Washington tragen, die alle geduldig warten lassen, auf der Pressetribüne, in den Gängen und der Kantine. Die Besuchergruppen werden wie an jedem Tag durch das Kapitol geführt, wie an jedem anderen Tag, vorbei am Büro des Sprecher des Repräsentantenhauses, der die rebellischen Tea-Party-Abgeordneten nicht unter Kontrolle bekommt, und der, wie der Fremdenführer bei jeder Tour erneut anmerkt, an dritter Stelle im Staat kommt, nach dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten.

Die Debatte wogt an diesem Tag hin und her, zwischen dem Repräsentantenhaus auf der Südseite des Kapitols, in dem die Republikaner die Mehrheit stellen, und dem Senat auf der Nordseite, in dem die Demokraten die Oberhand haben. In beiden Kammern stehen sich Demokraten und Republikaner unversöhnlich gegenüber. Sie stehen wieder hinter ihren Bänken, angriffslustig und unversöhnlich, beschimpfen sich gegenseitig, den Staat zu ruinieren, und der schlechte Vorschlag ist immer der der anderen Seite. Auch dieser Tag droht wieder zum Schaukampf zu werden, ein neuer Tag Stillstand.

Die Journalisten stehen am Nordausgang des Repräsentantenhauses, dort, wo John Boehner, der stets braungebrannte Sprecher des Repräsentantenhauses, immer zurück zu seinem Büro eilt, und wenn er vorbeikommt, rufen die Journalisten ihm zu: “Sprecher Boehner, sind Sie optimistisch?” Boehner geht dann stur weiter, ohne den Blick zu wenden, ohne etwas zu sagen, und streckt den Daumen nach oben. Was soll er auch anderes tun? Immerhin reicht die Geste für neue Spekulationen und einen Beitrag in den Abendnachrichten, es gibt ja sonst kaum Anzeichen der Hoffnung.

In der Presselounge des Repräsentantenhauses sitzt Molly Hooper. Sie arbeitet für die Parlamentszeitschrift “The Hill”. Sie hat schon viel erlebt, sie hat hier vor vielen Jahren als Page begonnen, aber eine solche Tortur, sagt sie, hat sie selten mitgemacht. Seit zehn Tagen sitzt sie hier, sie sagt, sie hat keine sauberen Kleider mehr in ihrem Schrank, sie weiß nicht mehr, was sie morgens noch anziehen soll. Sie kennt die parlamentarischen Tricks, mit denen gearbeitet wird, die kein Wähler da draußen versteht, die aber jetzt den Alltag beherrschen. Alles wird undurchschaubarer, jeden Tag.

Und dann die “breaking news”: Sie sprechen wieder

Nachmittags kommt die Meldung, dass Präsident Barack Obama die Demokratenführer Harry Reid und Nancy Pelosi, die Top-Demokraten, ins Weiße Haus eingeladen hat. Sie rasen in schwarzen Suburbans davon, und wieder gibt es einen Hauch Hoffnung, dass sich etwas bewegen könnte, dass es ein positives Signal sein könnte, wenn sich der Präsident in die Debatte einmischt.

Und dann heißt es, Boehner trete vor die Presse, unten vor dem Repräsentantenhaus. Und die Hoffnung steigt, dass sich nun wirklich etwas bewegt haben könnte.

Die vier US-Flaggen stehen mitten im Parlamentsflur aufgebaut, kerzengerade verläuft der Gang hinter ihnen, die Journalisten, sogar die Abgeordneten, die ihn in ihm stehen, wirken verloren. Wohin sollen sie schauen? Zum Weißen Haus, wo gerade Nancy Pelosi und Harry Reid mit Obama zusammensitzen. Oder doch zu den Republikanern?

Die Mikrofone sind schon aufgebaut, aber zehn Minuten verstreichen, zwanzig, beinahe dreißig. Schließlich taucht Boehner doch auf. Er hat Mitch McConnell mitgebracht, den republikanischen Minderheitenführer im Senat. Er vertritt Kentucky im Süden, er sieht aus wie ein gemütlicher Pferdezüchter, er verkörpert die Ruhe, vielleicht auch die Trägheit des Senats, des Oberhauses.

900 Milliarden Dollar Staatsausgaben will der Boehner-Plan im Repräsentantenhaus einsparen, doch er sieht auf Druck des rechten Flügels der Republikaner auch einen Zusatz vor, der einen stets ausgeglichenen US-Haushalt verlangt. Für Amerikas Linke ist das ein rotes Tuch, also scheiterte der Vorstoß rasch im Senat, wo die Demokraten die Mehrheit stellen.

Boehner soll eigentlich den Ton vorgeben, doch schließlich drängt der bedächtige McConnell ans Mikrofon. Er sagt: “Wir stehen nun in regelmäßigem Kontakt mit der einzigen Person in Amerika – der einzigen von 307 Millionen Amerikanern -, die durch ihre Unterschrift ein Gesetz in Kraft treten lassen kann.” McConnell meint natürlich den Präsidenten.

Die Worte des Republikaners jagen blitzschnell über die TV-Bildschirme, die Web-Seiten. Schon dass beide Seiten wieder miteinander reden, ist in diesen Tagen “breaking news”. So weit haben sich Demokraten und Republikaner schon entfernt, dass selbst die Nachricht, sie würden miteinander reden, eine Euphoriewelle auslöst.

Können die “Hobbits” jetzt bezwungen werden?

Sofort wird auf den Kabelkanälen spekuliert, ob der radikale Tea-Party-Flügel der Republikaner vielleicht doch noch in die Knie gezwungen werden könne. Jener radikale Flügel, der bislang jede Einigung im Parlament verhindert hat. “Hobbits” hat sie der ehemalige republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain gerade genannt.

Doch kurz darauf ist Harry Reid in der Senatskammer zu sehen, der Führer der Demokraten. Er blickt ernst. Und er braucht nur einen Satz, um die ganze Hoffnung, die sich in den letzten Stunden aufgebaut hat, zu vernichten. Sein republikanischer Kollege halte wohl gern “bedeutungslose Pressekonferenzen ab”, höhnt Reid. Damit eins klar sei, betont der Demokrat: Es gebe noch immer keine Einigung. Und schon ist es wieder vorbei mit der neuen Hoffnung.

Reid will nicht mit McConnell verhandeln, das ist in dem Moment klar. Und McConnell will nicht mit Reid sprechen, so viel ist auch klar. Und wer spricht eigentlich genau für wen?

Es ist so, wie Kongress-Experte Bill Galston von der Brookings Institution in der “Huffington Post” stöhnt – selbst mit Jesus im Weißen Haus und Buddha an der Spitze des Repräsentantenhauses wäre eine Einigung nur schwer denkbar.

Denn Amerikas Parlament ist ein Parlament, das lahmgelegt ist. Oder sich in Geiselhaft hat nehmen lassen.

Schon wieder eine Verzögerung – ist das ein gutes Signal?

Am besten ist dies in dieser parlamentarischen Woche des Schreckens zu besichtigen, als eine kleine Gruppe von Tea-Party-Aktivisten zur Kundgebung auf dem Rasen vor dem Kongress ruft. Es sind nur wenige Aktive, vielleicht fünfzig, wenn es hochkommt.

Und doch huscht ein Republikaner im Anzug und Schlips nach dem anderen die paar Meter vom Parlament hinüber, Senatoren sind darunter und wichtige Kongressabgeordnete, sie machen brav ihre Aufwartung bei der Protestlerschar.

So wie Steve King, ein einflussreicher Abgeordneter aus Iowa. Er stellt sich auf ein kleines Holzpodium auf dem Rasen. “Hold the line”, donnert er, es müsse Schluss sein mit den Staatsausgaben, mit den Billionenschulden. Er gibt ihnen, was sie hören wollen.

Hinter ihm hat sich ein Mann aufgebaut, er ist aus Maryland in die Hauptstadt gereist, er hat sich eine Phantasieuniform übergestülpt, mit kleinen Flügeln auf einer blauen Gesichtsmaske, er sieht wie eine Mischung aus Bürgerkriegsuniform und Comic-Held. An seiner Hüfte hat er einen Metallstab eingehakt, daran ist eine gewaltige US-Flagge befestigt, sie reckt sich hoch in den Himmel, einen Meter hoch, zwei, vielleicht gar drei.

Der Mann salutiert, während er die Flagge hochreckt, wie ein Soldat, dabei kommt die Flagge gefährlich ins Schwanken. “Wenn man nicht die Verfassung respektiert, was ist dann übrig vom großartigsten Land der Welt”, ruft der Mann.

Dass Amerikas Verfassung vorsieht, dass Staatsschulden nicht einmal in Frage gestellt werden dürfen – also die Gründerväter wohl auch keinen selbstverschuldeten Staatsbankrott im Sinn hatten – stört ihn nicht weiter. Auch nicht, dass die Fahne ihm immer wieder ins Gesicht schlägt. Er schwenkt sie nur noch heftiger, während der Abgeordnete King redet, der Schweiß durchtränkt seine Gesichtsmaske.

Um 1 Uhr nachts soll der Senat wieder abstimmen, über seinen Kompromissvorschlag, den das Repräsentantenhaus am Morgen abgelehnt hat. Es ist ein Termin, auf den alle den ganzen Tag gewartet haben. Draußen ist es schon dunkel, in der Spitze des Kapitols brennt das Licht, wie immer, wenn Sitzungen sind. Aber dann kommt die Nachricht, die Abstimmung werde verschoben. Es ist nicht klar, was das heißt, aber am Ende einigen sich alle darauf, dass es wahrscheinlich ein gutes Signal ist.

Es muss ja einen Grund geben, am Sonntag wiederzukommen.

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