Mormons: Mission Accomplished

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Amerika erlebt den Aufstieg der Mormonen. Sie bestimmen die Politik, führen Unternehmen, schreiben Bestseller. Was macht die Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage nur so erfolgreich?

Zwei komische Vögel im weißen Hemd und dunkler Krawatte tummeln sich in einem Operetten-Jungle: Bruder Arnold Cunningham und Bruder Kevin Price wurden nach Uganda, in ein Dorf im Norden des Landes gesandt, das von Bürgerkrieg, Aids und Hungersnot geplagt ist. Sie sind gekommen, um den Bewohnern, die sich noch ein wenig sträuben, das Wort Gottes aus dem Buch „Book of Mormon“, dem Buch der Mormonen zu predigen. Das ist auch der Titel des Musicals, in dem sie die Hauptrollen spielen. Leider habe ich es selbst noch nicht gesehen, die Vorstellungen sind bis Anfang Januar ausverkauft, dabei kosten sie bis zu dreihundertfünfzig Dollar. So groß ist der Erfolg dieses von den Kritikern hoch gelobten und mehrmals ausgezeichneten Stücks.

Die Mormonen haben den Broadway erobert und streben nach jahrelanger Verfolgung und einem Leben am Rande der amerikanischen Gesellschaft nun die Eroberung des ganzen Landes an. Die Republikaner Mitt Romney und Jon Huntsman liebäugelten mit der Präsidentschaftskandidatur für die kommenden Wahlen, Harry Reid führt die demokratische Mehrheit im Senat; Glenn Beck, der Vorklatscher der Tea Party, ruft auf Fox News und bald auf einem eigenen Internetsender zum rechtsradikalen Feldzug gegen Barack Obama auf; Stephanie Meyer verkauft Vampirgeschichten in astronomischen Auflagen – mehr als 100 Millionen weltweit. Sie alle sind Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage.

Aushängeschilder der amerikanischen Industrie, wie American Express, Dell, Fischer-Price, die Marriott Hotel Kette und Fluggesellschaften werden oder wurden von Mormonen geleitet; Banken reißen sich um die Absolventen der Mormonen-Universität Brigham Young (BYU) der Stadt Provo im Staat Utah ebenso wie die CIA und das FBI.

Im Hauptquartier

Erst kürzlich widmete „Newsweek“ dem „Mormonen-Moment“ Amerikas seine Titelgeschichte, während sich die Glaubensgemeinschaft, ihres Zuspruchs sicherer denn je, eine flächendeckende Werbekampagne in New York leistet: Sie werben auf einem riesigen Bildschirm am Times Square, auf den U-Bahn Waggons und den gelben Dächern der Metropolen-Taxen. Auf den Plakaten sieht man Victor, Anwalt aus Brooklyn; Joy, Surferin aus Hawaii; Lisa, eine charmante Bloggerin; einen jungen Basketball-Spieler, der Eis und Yoga liebt; einen wilden Motorradfahrer, der mit wehendem Haar dem Sonnenuntergang entgegen fährt. Sie inszenieren sich als gute, loyale Amerikaner, als glückliche und moderne Mormonen, deren Lebenswirklichkeit weit entfernt ist von stereotypen Vorstellungen, wie der eine „polygame Sekte“ zu sein, die sie lange Zeit in den Schatten der Gesellschaft stellten.

Im Hauptquartier der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Salt Lake City, trifft man auf der Etage der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit weder Surfer noch Biker. Die Frauen tragen lange Röcke oder einfache Gewänder, die Männer weite, dunkle Anzüge und strenge Krawatten. Alle sind ungewöhnlich höflich und sehen erstaunlich gut aus, sogar die älteren Mitarbeiter, die in ihren Kästen sitzend ins Telefon flüstern, haben einen ungewöhnlich frischen Teint. Die Stimmung ist gedämpft, fast klinisch. Hier wird gearbeitet, hier schweigt man.

Der Weg des Joseph Smith

Bis Robert Millet, ein Theologie-Professor an der BYU, mit dem ich verabredet bin, auftaucht, sehe ich mich um, schlendere durch die Gänge und schaue mir die gerahmten Zeitungsartikel an den Wänden näher an. Die meisten berichten von der tragischen Odyssee des Propheten Joseph Smith und seiner Gefährten: Sie begann im Staat New York, wo Smith im Jahr 1820 seine erste Offenbarung erfuhr, und führt über Missouri und Illinois bis nach Utah, wo er mit achtunddreißig Jahren ermordet wurde. In vielen Artikeln geht es um humanitäre Aktionen und den Einsatz der Kirche, andere sind eher didaktische Tafeln: Es gibt vierzehn Millionen Mormonen weltweit, sechseinhalb Millionen leben in den Vereinigten Staaten, sie sind in einhundertsechsundsiebzig Ländern vertreten und auf der ganzen Welt regionale Zentren verknüpft, wobei die wichtigsten an Orten wie London, Frankfurt, Moskau oder Accra in Ghana liegen. Organigramme führen die Hierarchien auf: Thomas Monson ist zugleich Präsident der Kirche und lebender Prophet, der derzeitige Botschafter Gottes, assistiert von zwei Beratern. Darauf folgt ein Kolleg von zwölf Aposteln, ein Chor von siebzig Männern, die zum Großteil weiß und vorgeschrittenen Alters sind. Sie wirken gutmütig und trotzdem streng. Im Grunde sieht es aus, als würden sie an einer Anschlagtafel den Vorstand eines multinationalen Großkonzerns und die einzelnen Direktoren ihrer weltweit verbreiteten Filialen vorstellen.

Arbeit als religiöses Prinzip

Leider taucht Robert Millet an diesem Tag nicht auf. Dafür sitzt er mir am nächsten in seinem Büro in der BYU, an der siebenundneunzig Prozent der Schüler und neunundneunzig Prozent der Professoren Mormonen sind, gegenüber. Er ist ein überaus freundlicher Sechzigjähriger, seine Stimme ist sanft, seine Ansichten sind moderat. Er hat soeben seine tägliche Lektürestunde beendet, während der er sich entweder mit dem Alten oder dem Neuen Testament, dem Buch der Mormonen oder dessen Doktrin beschäftigt. Er erzählt mir von der heiteren Persönlichkeit Joseph Smiths, „dieser Bruder Joseph, der es so liebte mit den Kindern Ball zu spielen“, und dem mormonischen Konzept des Lebens, das „vor der Geburt beginnt und nach dem Tod weitergeht, insbesondere für Familien in denen man immer zusammenbleibt.“ Dass Smith nicht weniger als siebenundzwanzig bis achtundvierzig Frauen hatte unterschlägt Millet.

Ich frage ihn nach seiner Erklärung für den aktuellen Erfolg seiner Kirche. „Wir bleiben unseren moralischen Grundsätzen immer treu“, sagt er. „Sie sind zwar recht einfach, aber dafür eben auch strikt: der Glaube, die Stabilität von Beziehungen jeglicher Art, die Unabhängigkeit, die Selbstbeherrschung und das Maß.“ Die Mormonen trinken weder Tee noch Kaffee noch Alkohol, sie rauchen nicht, essen dafür aber Unmengen an Eis und Joghurt. Dann schließt der Professor die Augen und fügt hinzu: „Wenn die Erlösung nicht von Christus alleine kommen kann, erwartet Gott von uns, dass wir unseren Glauben durch harte Arbeit beweisen. Arbeit ist bei uns ein religiöses Prinzip, ebenso wie die Erziehung. In den Vereinigten Staaten haben die Mormonen mit den Juden den höchsten Anteil an akademischen Abschlüssen. Wie sind sehr pflichtbewusste Menschen.“ Das Emblem des Staates Utah ist die Bienenwabe.

Mission im Ausland

Mormonen werden schon im jüngsten Kindesalter unter die Fittiche der Kirche genommen. „Mit drei Jahren fangen sie an, in Gruppen über ihren Glauben zu sprechen. Damit werden sie daran gewöhnt, sich in der Öffentlichkeit zu artikulieren“, sagt Robert Millet. Für die Jugendlichen gibt es Jugendgruppen, in denen sie jeden Morgen bei Sonnenaufgang, noch bevor sie zur Schule gehen, an einem einstündigen Seminar teilnehmen. Sie werden sehr früh, mit etwa zwölf Jahren, dazu aufgerufen ihrem Klerus zu dienen, und da dieser das nicht hauptberuflich ist, nimmt er ihren Dienst sehr häufig in Anspruch. „Es ist aber hauptsächlich die Mission, zu der sich die jungen Leute einige Jahre später verpflichten, die aus ihnen verantwortungsbewusste Frauen und Männer machen wird“, sagt Robert Millet.

Sie werden ins Ausland geschickt, weit weg von ihrer Familie, um dort ihre Kirche anzupreisen, und dabei lernen sie, mit einer neuen Kultur umzugehen, sich in einer fremden Sprache und in schwierigen Situationen zu verständigen. Sie lernen, sich Niederlagen zu stellen und damit umzugehen. „Wenn sie dann zwei Jahre später zurückkehren, haben die jungen Mormonen weitaus mehr Lebenserfahrung und Kompetenzen als ihre Altersgenossen. Sie sind reifer und stärker. Das ist ein wunderbares Führungs-Training.“

Mitt Romney war, bevor er im Finanzwesen Karriere machte, in den sechziger Jahren für seine Mission in Frankreich. Jon Huntsman, ehemaliger Botschafter in China, hat während seiner Mission in Taiwan Mandarin gelernt.

Im Rucksack die Bücher

An meinem ersten Abend in Salt Lake City lernte ich einen Missionar kennen. Ich hatte ich einen Spaziergang rund um den Tempel gemacht, dieses erstaunliche, massive Gotteshaus, dass in seinem jungfräulichen weiß wie ein künstlicher Ursprung glänzt und an dessen Spitze eine goldene Statue des Engels Moroni sitzt, der Joseph Smith damals erschienen war. Eine Gruppe von ebenfalls komplett in weiß gekleidet Männern und Frauen war gerade dabei, in den heiligsten aller heiligen Orte einzutreten, der nur den Gläubigsten unter ihnen zugänglich und Nicht-Gläubigen ausdrücklich verboten ist. Als ich eine Frau nach der Prozession fragte, verwies sie mich an einen jungen Mann, Jonathan, der am Vorabend von seiner Mission zurückgekehrt war. Er war sehr höflich und bereit, mir von seiner Reise zu erzählen. Einige Tage später treffe ich ihn im Garten des Tempels. Viele Missionare laufen hier zu zweit, jeder mit einem Gebetsbuch unter dem Arm, herum, während sich sehr junge verheiratete Paare am Tempel und unter der Statue von Joseph Smith fotografieren lassen. Trotz der drückenden Hitze trägt Jonathan einen Baumwollanzug und Krawatte.

Er wäre gern nach Chile oder Schottland gegangen, sagt er, aber er wurde nach Arizona gesandt. „Gott hat das so beschlossen. Nachdem mein Antrag angenommen wurde und mein Gesicht auf dem Computerbildschirm erschien, betete einer der zwölf Apostel zu Gott und dieser hat ihm dann den richtigen Ort für mich mitgeteilt.“ Jonathan hat zunächst zwanzig Tage am Ausbildungszentrum für Missionare in Provo verbracht. Wäre er ins Ausland gegangen, wäre er neun oder zwölf Wochen geblieben, um Sprache und Kultur seines „Evangelisationslandes“ kennenzulernen. Jonathan hat diese „sehr intensive“ Zeit „geliebt“. Sie habe es ihm ermöglicht, sich „Gott zu nähern“ und sich dank „sehr inspirierender Begegnungen mit Aposteln und Leitern der Kirche“ beim tiefen Studium der Schriften selbst besser zu verstehen. „Man hat mir beigebracht mit den Leuten zu sprechen, Unbekannte von der Richtigkeit unseres Weges zu überzeugen und niemals aufzugeben“, sagt er.

Als er in Scottsdale, eine der abgeschiedensten Städte Amerikas, ankam, stellte ihm der Direktor der lokalen Mission seinen Gefährten vor, den jungen Mann, mit dem er für die nächsten zwei Jahre sein Zimmer und seinen Alltag teilen würde, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. „Jeder Tag glich dem Vorherigen“, sagt Jonathan. „Sechs Uhr dreißig Aufstehen, eine halbe Stunde körperliche Betätigung. Duschen und Frühstück um sieben. Ab acht drei Stunden Studium der Texte, erst alleine und dann mit meinem Gefährten. Um elf machten wir uns in Anzug und Krawatte auf den Weg, im Rucksack die Bücher und Filme, die wir verteilen sollten. Bis einundzwanzig Uhr warben wir Leute an, dazwischen hatten wir eine Stunde Zeit zum Mittagessen. Das nahmen wir in unserer Wohnung ein, immer zu zweit. Um einundzwanzig Uhr besprachen wir den Plan des nächsten Tages, zweiundzwanzig Uhr dreißig waren wir im Bett.“

Ablenkung verboten

Samstags standen ihnen sechs Stunden zur Verfügung um ihre Wäsche zu waschen und einkaufen zu gehen. Sie durften Emails an ihre Familie schreiben – aber höchstens eine Stunde in der Woche. Zweimal im Jahr, zu Weihnachten und zum Muttertag, durften sie bei ihren Eltern anrufen. Es gab weder Kino, noch Zeitungen, noch Fernsehen, noch Radio, noch profane Bücher. In der Mission ist jede Form von Ablenkung verboten. Sie sollten sich ausschließlich dem Studium der Schriften widmen.

Ist es schwer, den Rhythmus einzuhalten?

„Natürlich muss man sich am Anfang eingewöhnen, aber ich hab mich sehr schnell erfüllt gefühlt. Die Mission macht einen besseren Menschen aus einem, sie bringt einem Gott näher, sodass man die Müdigkeit vergisst. Es ist sehr befriedigend, da man den Menschen, die man trifft, Freude bringt.“

Wurden Sie von der Kirche kontrolliert?

„Das war nicht nötig. Wir waren sehr konzentriert.“

Und die Mädchen?

„Da ist es das gleiche. Es ist alles eine Frage der Selbstdisziplin.“

Als während der Mission Jonathans Großmutter starb, wollte er nicht zur Beerdigung gehen. Dafür hat er für sie und für seine Familie gebetet. E sei jetzt ein anderer Mensch, sagt er, ruhiger, besser, mit mehr Verantwortungsbewusstsein und vor allem mehr Verständnis für die Gedanken derer, die er bekehren will. Teilweise habe man ihn sehr schlecht empfangen, sagt er, trotzdem seien jeden Monat etwa neunzig Menschen in der Region Phoenix zu seinem Glauben übergetreten. „Es war einzigartig.“

Jonathan will nun anfangen zu studieren, entweder um Geschäftsmann oder um Ingenieur zu werden, das weiß er noch nicht genau. Wenn ihn die Utah Universität in Salt Lake City annimmt, wird er vielleicht zu den Seminaren von Bob Goldberg gehen. Dieser ist ursprünglich aus New York, unterrichtet aber seit dreißig Jahren in der Gegend.

Wie nimmt er seine Studenten wahr?

„Wie überall. Zehn Prozent sind außergewöhnlich, vierzig Prozent normal, und fünfzig Prozent sollten etwas anderes machen.“

Am Ufer des Salzsees

Die Mormonen allerdings hätte einen besondere Charakteristik; sie seien hyperaktiv. Mit zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren müssen sie nicht nur ihr Studium meistern, sondern auch noch eine Ehe, kleine Kinder, ihre freiwillige Arbeit in der Kirche und oft noch einen Nebenjob unter einen Hut bekommen um ihr Studium zu finanzieren und ihre Familie zu ernähren. Goldberg meint, diejenigen, die diesem Druck standhielten – Utah hat in den Vereinigten Staaten den höchsten Verbrauch an Beruhigungsmitteln – werden zu Maschinen, die perfekt auf die Anforderungen des globalen Kapitalismus zugeschnitten sind. „Sie haben das Profil des Angestellten, von dem jedes Unternehmen träumt. Darüber hinaus neigen sie weniger dazu, Hierarchien und Autorität anzufechten, da sie dazu erzogen wurden sich anzupassen.“

Die Amerikaner haben den Mormonen, mit ihrer seltsamen Lebensweise und ihrer Theokratie, lange Zeit misstraut. Sie wurden überall verjagt, bis sie 1840 an den Ufern des großes Salzsees und in den fruchtbaren Tälern des Utah, einem quasi menschenleeren Gebiet ankamen, das durch das Gebirge geschützt war und noch kurz zuvor zu Mexiko gehört hatte. Die Polygamie, die im damaligen, von viktorianischen Werten geprägten Amerika als Relikt der Barbarei angesehen wurde, gaben sie auf, als Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Eroberung des Westens abgeschlossen war und es keinen freien Raum mehr gab, an den sie sich hätten zurückziehen können.

Mit dem Ziel, ihre Kirche zu retten, setzten die Mormonen alles an ihre soziale Integration und wurden amerikanischer als die Amerikaner: pro-kapitalistisch und patriotisch, nationalistisch und anti-kommunistisch – die Kirche sah im Kommunismus ein Werk Satans – und als es sich nicht mehr vermeiden ließ, ihre Gemeinschaft auch schwarzen Bürgern zugänglich zu machen, taten sie es, wenn auch erst 1978 und mit Widerwillen. Die Erinnerung an die jahrelange Verfolgung und ihre grundsätzliche Disposition zur Anpassung sind ein wichtiger Antrieb für ihre heutige Bedeutung.

Hartnäckig, ausdauernd, entschlossen, organisiert, diszipliniert, gemäßigt und ernsthaft: In einem Amerika, das gespaltener denn je ist und unter einem dramatischen Werteverlust leidet, haben die Mormonen eine beruhigende Wirkung. Sie stellen die beste Truppe und die besten Generäle des „Corporate America“.

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