Ausstand und Boykott
Von Mirko Knoche
05.10.2011
Streit um Krankenversicherung und die Rechte von Gewerkschaftsmitgliedern: Beschäftigte der US-Drogeriekette »Rite Aid« wehren sich
Auf der Fahrt zum Supermarkt tauchen hinter einer Steigung plötzlich Streikposten auf. Ein halbes Dutzend Gewerkschafter ist zu sehen vor einer Filiale der Drogeriekette »Rite Aid« in Cleveland, Ohio. Auf Postern steht »Im Streik«, und etwas kleiner darunter: »an anderen Standorten«. »Was soll das heißen?« frage ich einen der Protestierenden. Der Mann Anfang Sechzig antwortet: »Ein paar Meilen weiter stehen die Beschäftigten vor ihrer eigenen Filiale, so wie wir hier.« Er zieht an einer Zigarette und fährt fort: »Ich bin Rentner, mein Kollege dort vorne auch.« Dann deutet er auf eine junge Frau und eine Gruppe jüngerer Männer. »Die arbeiten bei der Kette ›Giant Eagle‹ und sind zur Unterstützung hier.«
Ich unterhalte mich eine Weile mit dem Verkäufer im Ruhestand. Er erzählt, daß »Rite Aid« die Kosten für die Krankenversicherung vollständig auf die Angestellten abwälzen wolle. Bereits seit mehreren Monaten gebe es deshalb einen Tarifkonflikt. Die Einzelhandelsgewerkschaft »United Food and Commercial Workers« (UFCW) hat tatsächlich am 1. April in 30 »Rite Aid«-Läden in zehn US-Bundesstaaten einen Streik begonnen. Die Schwestergewerkschaft der Warenhausarbeiter »International Longshore and Warehouse Workers Union« (ILWU) beteiligt sich an den Aktionen. So legten im Frühjahr 500 »Rite Aid«-Beschäftigte von der ILWU in Lancaster im US-Bundesstaat Kalifornien die Arbeit nieder.
Angriff auf Gewerkschaften
Neben dem Streit um die Krankenversicherung wehren sich die Beschäftigten auch gegen Angriffe auf ihre Rechte als Gewerkschaftsmitglieder (siehe Spalte). Die »Rite Aid«-Geschäftsführung in Cleveland zeigt sich besonders hartnäckig und weigert sich, mit der UFCW zu sprechen. »Deren Ziel ist es, die Gewerkschaft zu sprengen«, sagt der protestierende Rentner voller Überzeugung. Ein paar Meter weiter sind die Jüngeren weit weniger auskunftsfreundlich. Sie verweisen auf den Gewerkschaftssekretär, der bald vom Mittagessen zurück sein werde.
Einige Minuten später steigt er auf der anderen Straßenseite aus dem Auto. Ich stelle mich auch ihm als Journalist vor, doch er fragt. Woher ich komme, für wen ich arbeite, was mein Motiv sei. Das Mißtrauen ist auch an anderen Filialen deutlich zu spüren. Zu viele Unternehmerspitzel horchen die Streikposten aus, stellt sich später heraus. Der Sekretär lenkt schließlich ein und erläutert, daß nur neun oder zehn von gut fünfzig »Rite Aid«-Standorten in Cleveland überhaupt gewerkschaftlich organisiert sind. Er verweist auf einen weiteren Streikposten, an dem die örtlichen Angestellten ihren eigenen Laden bestreiken.
Protest mit Sternenbanner
Auch dort das gleiche Bild. Eine Handvoll Menschen steht mit Plakaten vor dem Parkplatz der »Rite Aid«-Drogerie, dazu sind ein paar Sternenbanner drapiert. Amerikas Gewerkschafter tragen keine roten Fahnen, sondern ihre Nationalflagge. Sie bekräftigen damit ihre verfassungsmäßig garantierten Rechte. Doch auch hier traut man mir erst nach einer längeren Befragung. Der Verdienstausfall ist für die Streikenden empfindlich. Auf die Frage, wie viele Menschen gerade in der »Rite Aid«-Filiale arbeiten, antworten zwei Frauen in mittlerem Alter, daß gerade vier oder fünf Beschäftigte im Laden seien und ihn am Laufen hielten. An anderen Tagen arbeiteten dort nur zwei Beschäftigte. »Wie ist es, mit Streikbrechern im gleichen Betrieb zu sein«, will ich wissen. Die beiden rollen nur mit den Augen. Ein Gewerkschaftssekretär – Ende Fünfzig – übernimmt das Wort und äußert sich ziemlich verbittert. Die Umstehenden nicken stumm.
Dabei sind nach Angaben der Streikposten alle Angestellten Mitglieder der UFCW. Der Funktionär erläutert, daß dies im Bundesstaat Ohio in jedem gewerkschaftlich organisierten Betrieb verpflichtend sei. Hier haben die »Closed Shops« (geschlossene Betriebe) angelsächsischer Tradition demnach Gesetzesrang. Ganz anders sieht es dagegen in unorganisierten Betrieben aus. Hier gelte die Devise »Hire and Fire« (Heuern und Feuern), so der UFCW-Mann.
Erste Umsatzeinbrüche
Doch was bringt der Streik, wenn das Geschäft trotzdem geöffnet hat? Man rufe zum Boykott von »Rite Aid« auf – und nicht nur die Familien der UFCW-Mitglieder weigerten sich, dort einzukaufen, entgegnet der Anführer. Die Automobilarbeiter von der UAW und die Lasterfahrer von den Teamsters blieben der Kette fern, sagt er, praktisch alle Mitglieder des Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO unterstützten den Boykott. Ab einem Umsatzeinbruch von zehn Prozent rechne sich das Geschäft für »Rite Aid« nicht mehr. Vor Ort habe man sogar dreißig bis vierzig Prozent erreicht. Das ist freilich schwer zu glauben. Anders als sein Kollege am ersten Streikposten behauptet er auch, daß fünfundzwanzig »Rite Aid«-Filialen gewerkschaftlich organisiert seien, nicht neun oder zehn. Doch jetzt kommt er erst richtig in Fahrt und beginnt, gegen die Politik in Washington vom Leder zu ziehen.
Nun muß ich einhaken, frage noch einmal, worum der Streik genau geht. Die zwei Frauen helfen aus und erklären, daß sie monatlich achthundert Dollar in einen Fonds für die Krankenversicherung einzahlten, der von »Rite Aid« und der UFCW verwaltet werde. Die Drogeriekette stocke die Summe beträchtlich auf, ergänzt der Gewerkschaftssekretär, das Unternehmen müsse sich mit der UFCW verständigen, welche Leistungen bei welcher Versicherung dafür übernommen würden. Im aktuellen Tarifkonflikt wolle »Rite Aid« alle Zahlungen von Unternehmensseite einstellen und den Versicherungsfonds künftig alleine verwalten. Das besagen auch die Verlautbarungen der UFCW-Führung.
Sofort kommt das Gespräch auf die Krankenkassenreform des derzeitigen US-Präsidenten Barack Obama. Trotz »Obama-Care« hat sich die Zahl der Amerikaner ohne Gesundheitsversorgung von 49 Millionen auf fast 50 Millionen Menschen erhöht. Dabei sei alles so einfach, bekennt der Gewerkschaftssekretär. Man müsse schlicht den Leistungskatalog der staatlichen Minimalversicherung Medicaid auf das Niveau der Rentnerkrankenkasse Medicare ausweiten. Dafür genüge es, die Beitragssätze für die gesetzliche Rentenkasse zu erhöhen – für Beschäftigte und Unternehmer gleichermaßen.
»Das wäre dann ja wie bei uns in Europa«, antworte ich erstaunt. »Und wie in Kanada«, entgegnet der Mann, »aber in den USA gibt es anders als da und bei euch keine Arbeiterpartei.« Dieser Satz hat Tradition, unter anderem hat ihn der legendäre Vorsitzende der KP der USA, Gus Hall, verwandt, der damit ebenfalls die klassischen Sozialdemokraten meinte. »Wir aber müssen uns die Gunst der liberalen Demokraten mühsam und kostspielig erwerben«, redet sich der UFCW-Funktionär in Rage, »während sich die großen Unternehmen jeden Abgeordneten von Demokraten wie Republikanern mit hohen Wahlkampfspenden kaufen können«.
Richtig wütend wird er erst, als er davon spricht, daß sich so viele Amerikaner von Rupert Murdochs Hetzkanal »Fox News« in die Irre führen ließen. »Erst jubeln sie bei der Vorwahldebatte der Republikaner, als ein Kandidat sagt, er würde einen Todkranken ohne Versicherung vor dem Krankenhaus sterben lassen. Und dann protestieren sie, als ein anderer Kandidat die Krankenkasse Medicare abschaffen will.« Der Arbeiterfunktionär, dessen Zoten bei den beiden Ladies gut ankommen, macht noch ein paar Witze über die »Tea Party«-Anhänger, oder »Tea Bags (Teebeutel)«, wie sie von Gegnern in Anlehnung an eine Sexualpraktik genannt werden. Wir könnten ewig reden, doch ich muß weiter, fahre wieder los und sehe die Streikposten langsam im Rückspiegel verschwinden.
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