Surviving with Food Stamps

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Die USA haben so viele Arbeitslose wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Am härtesten trifft es die, die noch gar nicht richtig angefangen haben.

Thomas Capdepera trägt eine weite, viel zu große Jeans, darüber einen schwarzen Kapuzenpulli, Größe XXL. Ein bisschen wirkt es, als wolle der massige Körper darin verschwinden. Die Haare sind an den Seiten kahl rasiert, wenn er spricht, tut er es leise, im Zweifel sagt er lieber einen Satz zu wenig als zu viel. Er lehnt an dem eisernen Geländer in der großen Eingangshalle, die von kalten Neonröhren in schummeriges Licht getaucht ist. Behördencharme. Ein Schild an der Wand verspricht Justice for all, Gerechtigkeit für alle. Es ist früher Nachmittag, Capdepera wartet darauf, dass der strömende Regen vor der Türe aufhört. Er hat Zeit, denn was wartet schon auf ihn?

Hier, im Dyckman Job Center am nördlichsten Zipfel Manhattans, kurz bevor die Stadt in den Hudson fällt und es hinüber geht ins ländlichere Umland, hören sich viele Geschichten an wie die von Capdepera. Mit 17 flog er von der High School, einen zweiten Versuch hat er nie gestartet. Seitdem schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch, ein paar Monate auf dem Bau, dann als Pizzabote, was sich eben ergab. Im Mai schließlich habe er bei seiner letzten Stelle “Schwierigkeiten” bekommen, erzählt er, sein Boss habe ihn rausgeschmissen. Seitdem ist er arbeitslos, aber irgendwie hat das Geld, das er von seiner Familie bekommen und mit kleinen Jobs verdient hat, gereicht. “Jetzt wird es eng”, sagt Capdepera. Ohne Food Stamps, wie die Lebensmittelmarken hier heißen, ginge es nicht mehr. Schließlich hat er Familie, eine fünfjährige Tochter. In drei Wochen wird er 25.

Die USA stecken auch Jahre nach dem Finanzkollaps tief in der Krise. Die 8,7 Millionen Jobs, die der Zusammenbruch des Finanzsystems vernichtet hat, kommen nur sehr langsam zurück. Erst vor kurzem kündigte die Bank of Amerika einen massiven Stellenabbau an, die US-Post plant die Streichung von 120.000 Jobs. Noch immer sind neun Prozent aller Amerikaner ohne Job, über 40 Prozent davon suchen seit mindestens sechs Monaten eine Stelle. Allein in New York leben derzeit rund 1,8 der rund acht Millionen Einwohner von Lebensmittelmarken, davon sind neun Prozent zwischen 18 und 24. Es sei “erschreckend”, sagt eine Mitarbeiterin des Job Centers in Dyckman, die anonym bleiben möchte, wie die Zahl der Hilfesuchenden angestiegen sei.

Am härtesten trifft es jene, die gerade erst ins Berufsleben starten. Sie sind zwischen 16 und 24, haben weniger Erfahrung und schlechtere Kontakte als die älteren Bewerber, mit denen sie konkurrieren. David Hamermesh, Professor für Ökonomie und Arbeitsmarktexperte an der Universität von Texas, bringt das Dilemma auf den Punkt: “Geht es der Wirtschaft gut, sind sie die letzten, die eingestellt werden. Läuft es schlecht, sind sie die ersten, die gehen.” Die Folge: 2010 lag die Arbeitslosenquote unter den 16- bis 24-Jährigen in den USA bei 18,4 Prozent – der höchste Wert seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1948. 2008 waren es noch 14 Prozent. Bei den 16- bis 19-Jährigen ist jeder Vierte ohne Job. Die Beschäftigungsquote unter Amerikas Jugend sank von 70,2 Prozent im Jahr 2007 auf gerade mal 59,5 Prozent im vergangenen Jahr.

Ein ähnlicher Rückgang für die Gesamtbevölkerung, und das Land hätte auf einen Schlag 14 Millionen Arbeitslose mehr. Rechnet man jene ein, die die Suche längst aufgegeben haben oder keine volle Stelle finden, liegt die Zahl deutlich über 20 Prozent. “Es ist ein Desaster”, fasst Heidi Shierholz zusammen. Die Ökonomin ist Expertin für Arbeitsmarktfragen bei dem liberalen Think Tank Economic Policy Center in Washington. Die junge Generation, sagt Shierholz, habe das enorme Pech gehabt, mitten in eine Krise hineingeboren worden zu sein. “Es gibt da draußen schlicht und einfach keine Jobs.”

Die Arbeitslosigkeit trifft viele der jungen Menschen härter als andere in der Bevölkerung. Zeit, etwas anzusparen, hatten sie nicht. Das staatliche Sicherheitsnetz, ohnehin eines der dünnsten und flickenreichsten der Welt, lässt viele der jungen Leute durchs Raster fallen. Wer nach der High School noch keine feste Stelle hatte, der bekommt gar keine Arbeitslosenhilfe und muss sich mit Food Stamps über Wasser halten – und selbst die gibt es nur unter strengen Auflagen und für begrenzte Zeit. “Das Sozialsystem war ja für diese Gruppe nie gedacht”, sagt Daniel Hamermesh. Ab 2014 gibt es immerhin eine medizinische Grundversorgung für alle, die unter eine bestimmte Einkommensgrenze fallen.

Doch die Folgen sind langfristiger und oft kaum messbar. “Wenn man als junger Mensch einen Fehlstart auf dem Arbeitsmarkt hinlegt, dann dauert es oft lange, bis man zurück in der Spur ist”, sagt Heidi Shierholz. Der erste Job sei oft entscheidend für den gesamten weiteren Verlauf der Karriere. “Hier entsteht das Netzwerk, das die nächsten Schritte einleitet”, so die Ökonomin. Wenn die jungen Menschen in dieser Phase arbeitslos würden, stünden sie nach einer Erholung des Arbeitsmarktes ganz woanders, als sie eigentlich stehen sollten.

Es sind vor allem Problemfälle wie Thomas Capdepera, die auf der Strecke bleiben. Die Arbeitslosigkeit derer, die keinen High School-Abschluss haben, hat sich landesweit seit Beginn der Krise auf 21 Prozent verdoppelt. Doch auch die Hochqualifizierten im Land spüren den Abschwung.

Wie Ramon Torres. Der heute 28-Jährige wurde auf Puerto Rico geboren, dort studierte er Informationstechnologie, später ging er nach Kalifornien, weil die Bezahlung in seiner Heimat schlecht war und Jobs in der Computerbranche rar. Als die Krise auch seine Firma erreichte, war er einer der ersten, die gehen mussten. Er ging zurück nach Puerto Rico, erstellte Webseiten. “Ich machte alles, was Geld brachte”, erzählt Torres. Vor knapp einem Jahr zog er für den nächsten Job wieder Tausende von Kilometer weit weg, dieses Mal nach New York. Hier arbeitete er als Web-Developer für eine kleine Startup-Firma. “Wir waren auf Wachstumskurs, alles lief gut”, erzählt der Programmierer in seiner WG in Brooklyn. Als er vor wenigen Tagen ins Büro kam, rief sein Chef ihn zu sich. “Wir müssen uns von Ihnen trennen, hier und jetzt”, hieß es nur. Ein paar Minuten blieben ihm, seinen Schreibtisch zu räumen, den Schlüssel abzugeben, das Gebäude zu verlassen. Jetzt bekommt er noch drei Wochen Geld. Dann muss er einen neuen Job gefunden haben oder erneut Arbeitslosenhilfe beantragen. Doch die 405 Dollar, die in New York maximal pro Woche gezahlt werden, reichen kaum, um das teure Leben in der Stadt zu finanzieren, 1.200 Dollar kostet allein sein WG-Zimmer.

Ein College- oder Universitätsabschluss sei längst keine Garantie mehr dafür, auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen, sagt Heidi Shierholz. Ausbildung in den USA sei teuer, und sie habe nur funktioniert, weil den Absolventen der Colleges und Universitäten gute Jobs sicher waren. “Dieser Vertrag existiert nicht mehr”, meint die Ökonomin. Für viele sei das teure Studium eine zusätzliche Belastung geworden. Zumal mehr als die Hälfte aller College-Studenten nebenbei arbeiten, um sich die Ausbildung überhaupt leisten zu können. Und Nebenjobs sind seit der Krise rar.

Barack Obama will der Jugend die Hoffnung nun zurückgeben. Gerade kämpft der Präsident im Kongress für eine neue 447 Milliarden Dollar schwere Job-Initiative. Mit Steuernachlässen und massiven Investitionen in die marode Infrastruktur des Landes will Obama die Nation wieder auf die Beine bringen. Steuergeschenke für Unternehmen, die junge Leute einstellen und das Summerjob-Programm sollen Schülern und Studenten helfen. Dass sich die Situation dadurch deutlich bessere, bezweifelt Expertin Heidi Shierholz. Von den 4,3 Millionen Stellen, die bis 2012 geschaffen werden sollen, seien tatsächlich nur 2,6 Millionen wirklich neue Arbeitsplätze. Ansonsten sichere das Programm vor allem Stellen, die ohne die Initiative wegfallen würden. Und selbst wenn es in den kommenden Jahren wieder aufwärts gehe, brauchten die Jungen länger, bis sie sich erholten.

Der Himmel über dem Arbeitsamt im Norden Manhattans hat sich aufgeklart. Thomas Capdepera macht sich auf den Weg, nach Hause, zur Tochter. Was er vorhabe? “Ich habe keine Ahnung.” Vielleicht, sagt er noch, bevor er die Glastür aufdrückt, mache er ja doch noch seinen High School-Abschluss nach, irgendwann.

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