Double Demise

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Zweimal Niedergang

Von Josef Joffe

14.11.2011

Amerika und Europa sind im Unglück vereint – wie 1929.

Vor vierzig Jahren erfand der Osteuropa-Experte Leo Labedz den Begriff des »Dekadenz-Wettbewerbs«, den sein Pariser Kollege Pierre Hassner weitertrug. Wer würde schneller an seinen »Widersprüchen« scheitern – die USA oder die UdSSR? Die Antwort kennen wir seit 1991, als die Sowjetunion Selbstmord beging. Sie konnte ihr Imperium nicht mehr finanzieren.

Heute proben Amerika und Europa den Abstieg, nicht zum ersten Mal. Niedergang I begann 1929, und er endete für Europa fast tödlich. Dort spie die Krise Hitler aus, in Amerika gebar sie Roosevelt. Gerettet wurde die Alte von der Neuen Welt; die Demokratie triumphierte. Niedergang II aber findet beide Seiten im Unglück vereint; keiner kann sich oder dem anderen helfen.

Wobei Amerika in einer Hinsicht etwas besser dasteht. Sein Anteil am Weltprodukt liegt seit vierzig Jahren bei rund 27 Prozent; derweil hat Europa – Überraschung – neun Punkte verloren. Ansonsten aber leiden beide an gleichen Gebrechen: Schulden- und Herrschaftskrise. In allen Demokratien hat das Volk vom Staat mehr gefordert, als es zu zahlen bereit war, der Staat hat freudig gegeben (und ist dabei prächtig gewachsen). Ergo Schuldenquoten um die hundert Prozent vom BIP, plus/minus. Überall wird der Staat nicht damit fertig, was er und sein Volk angerichtet haben.

Warum nicht? Es gilt frei nach dem Otto-Graf-Lambsdorff-Prinzip: »Wir wollen alle den Gürtel enger schnallen, aber fangen wir bei dir an.« Jeder sieht sich vorweg als Opfer, wie es ein Poster der Wall-Street-Besetzer ausdrückte: »I am very upset«– ich bin furchtbar aufgebracht. Wer ist schuld?

Am einfachsten ist es, die Misere zu personalisieren: die Banker, die Finanzakrobaten… Die haben sich in der Tat schrecklich bereichert. Aber Vater Staat hat den Tisch gedeckt: Er druckt seit dreißig Jahren billiges Geld und verteilt bedenkenlos Wahlgeschenke; er hat wie in Spanien und Irland die Immobilienblase befördert, er hat wie in Amerika im Namen der sozialen Gerechtigkeit (»Hauseigentum für alle«) Hypotheken an Zahlungsschwache verschleudert. Nur so haben sich die »Finanzkapitalisten« überfressen können, übrigens auch die staatlichen deutschen Landesbanken. Staats- und Marktversagen sind Zwillinge, und ihr Erzeuger ist ein ansonsten wunderbares demokratisches System, welches das Ganze gegenüber dem Einzelnen benachteiligt.

Wer kommt schneller wieder hoch? Theoretisch Amerika, weil das hiesige Wahlrecht eher klare Mehrheiten schafft als das europäische Proporzsystem mit seinen trägen Koalitionen. Außerdem haben die großen US-Unternehmen ihre Schulden abgebaut; sie sitzen auf Milliarden von Cash. Doch wie doziert Hölderlin? »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« Die taumelnden Griechen haben sich folglich zu einer Einheitsregierung durchgerungen; sie soll als Erstes die nationalen Finanzen ordnen. In Berlin herrscht, jedenfalls in der Europapolitik, schon eine Allparteien-Regierung. Es gilt für die Demokratie, was Churchill über Amerika gesagt hat: Sie wird das Richtige tun, aber erst, nachdem sie alles andere durchprobiert hat.

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