Barack Obama hatte im Wahlkampf angekündigt, als US-Präsident das Gefangenenlager Guantanamo zu schließen. Warum hat der US-Präsident sein Versprechen gebrochen?
Die Geschichte des Lagers Guantanamo ist eine Kette von Fehlannahmen und Entscheidungen, die nur aus der jeweiligen Situation heraus verständlich sind, aber im Rückblick oft widersinnig erscheinen. Es ist auch die Geschichte eines Propagandakriegs und ein Beispiel, wie unterschiedlich die Urteile ausfallen, je nachdem aus welcher Perspektive man blickt. Aus Sicht der meisten Deutschen ist das Lager ein großes Unrecht, eine Schande für Amerika. In den USA dagegen findet es eine Mehrheit gut, dass Obama sein Versprechen, Guantanamo ein Jahr nach Amtsantritt zu schließen, nicht erfüllen konnte.
Zu Beginn gab es auch in Europa noch gewisses Verständnis. Den Terrorangriff mit gekaperten Flugzeugen auf New York und Washington am 11. September 2001 hatte Al Qaida in Afghanistan unter dem Schutz des Taliban-Regimes geplant. Der Anschlag traf nicht nur Amerika unvorbereitet. Auch in Europa befürchteten Bürger und Politiker, dass weitere Attacken drohen. Die Nato erklärte zum ersten Mal in der Geschichte den Verteidigungsfall. Die Vereinten Nationen billigten den Krieg zum Sturz der Taliban. Amerika wollte darüber hinaus Verdächtige, die von weiteren Anschlagsplänen wissen konnten, festnehmen und an einem sicheren Ort verhören. So kamen am 11. Januar 2002 die ersten Gefangenen aus dem Krieg in Afghanistan, die der Mitgliedschaft bei Al Qaida verdächtigt wurden, nach Guantanamo. Über die Jahre wurden es 779, freilich nie alle gleichzeitig. Der damalige US-Präsident George W. Bush wählte die Militärbasis auf Kuba, weil dort angeblich Amerikas Rechtssystem nicht gilt. Es war seine volle Absicht, die Gefangenen rechtlos zu machen.
Nach den regelmäßigen Verhören, bei denen zum Teil körperliche Gewalt angewendet wurde, muss die Regierung Bush wohl nach gewisser Zeit gewusst haben, dass die meisten Insassen keine Topterroristen sind. Doch öffentlich wollte sie das nicht zugeben. Erstens sah sie sich weiterhin im Krieg gegen Terroristen, die möglichst viele Amerikaner und deren Verbündete umbringen wollen. Zweitens hatten Anwaltsverbände und Bürgerrechtsgruppen in den USA Gerichtsverfahren gegen die Regierung wegen der Rechtskonstruktion des Lagers, den Haftbedingungen sowie der Prozessordnung für die geplanten Militärtribunale eingeleitet. Die Regierung verlor etwa die Hälfte dieser Verfahren und musste den Gefangenen nach und nach mehr Rechte geben.
Öffentlich nannte Bush die Gefangenen „die Gefährlichsten der Gefährlichen“ und warf Guantanamo-Kritikern vor, sie seien zu weich mit den Feinden Amerikas. Parallel ließ er bis 2008 etwa 540 Gefangene in ihre Heimatstaaten oder andere Länder abschieben, weil er sie für ungefährlich hielt.
2008 wurde Barack Obama zum Präsidenten gewählt. An seinem ersten Amtstag im Januar 2009 ordnete er die Schließung Guantanamos innerhalb eines Jahres an. Er hatte drei Ziele. Erstens, die Rechtlosigkeit zu beenden. Die verbliebenen 240 Insassen bekamen neue Einzelfallprüfungen. Kleine Fische kamen frei. Zweitens wollte er den Topterroristen, die 9/11 geplant hatten, Strafprozesse in Amerika machen. Doch nur gegen einen Teil gab es gerichtsfeste Beweise. Im Krieg in Afghanistan konnten keine zivilen Ermittler Belastungsmaterial sichern. Zwangsläufig stützt sich die Anklage oft auf Geheimdiensterkenntnisse. Und die sind nicht öffentlich verwertbar.
Deshalb hatte auch Obama – genau wie Bush – vor, eine dritte Gruppe von Insassen vor Militärgerichte zu stellen oder ohne Prozess weiter zu inhaftieren – als Kriegsgefangene. Nach amerikanischer Auffassung erlaubt das Völkerrecht dies. Viele Deutsche bezweifeln das. Obama sagt, als Oberbefehlshaber dürfe er solche Fragen allein entscheiden.
Die Verurteilten und die Kriegsgefangenen wollte Obama in ein neues Gefängnis innerhalb der USA bringen, um Guantanamo zu schließen. Seine Regierung fand eine geeignete Haftanstalt in Thomson, in einer dünn besiedelten Region im Westen von Obamas Heimatstaat Illinois.
Auf dem Papier hatte Obama in den ersten beiden Amtsjahren eine klare Mehrheit im Kongress. Doch seine Partei ließ ihn im Stich – aus Furcht vor den Wählern. 2009 und 2010 hatte es neue Anschläge gegeben, darunter den „Unterhosenbomber“ in einem US-Flugzeug von Amsterdam nach Detroit und eine Autobombe am Times Square in New York. Es war reines Glück, dass die Zünder versagten. Da wollte kein Abgeordneter „weich gegenüber Terroristen“ erscheinen. Von den Entlassenen haben 42 den Kampf gegen Amerika erneut aufgenommen.
Der Kongress verweigerte Obama das Geld für den Umbau des Ersatzgefängnisses in Thomson und verbot ihm, Guantanamo-Gefangene ohne Erlaubnis des Parlaments in die USA bringen zu lassen. Parallel bat Amerika jedoch andere Länder, entlassene Häftlinge aufzunehmen.
Heute sind noch 171 Insassen in Guantanamo. Die größte Gruppe sind Jemeniten, die seit 2009 in ihr Land zurückkehren sollen, aber dies wegen des Bürgerkriegs dort nicht dürfen. 36 Männern soll der Prozess vor einem Militärgericht in Guantanamo gemacht werden – nach einer neuen Ordnung, die ihnen mehr Rechte gibt. Etwa 50 sollen ohne Urteil als Kriegsgefangene in Haft bleiben.
Guantanamo wird wohl noch lange nicht geschlossen. Doch unter Obama sind die Bedingungen anders als unter Bush. Aus dem Wegsperrlager für weitgehend Entrechtete ist ein Ort der Gerichtsverfahren geworden, wo die Angeklagten zumindest das Recht auf Anwälte haben.
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