Cognitive Dissonance

Edited by Alyssa Goulding

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Kognitive Dissonanz

Von Rainer Rupp

26.01.2012

Sechsundsechzig Minuten sprach US-Präsident Barack Obama vor dem US-Kongreß zur Lage der Nation. Wie bei diesem alljährlichen Anlaß üblich, geht der jeweilige Amtsinhaber eine lange Liste seiner »Erfolge« durch und macht Versprechungen für den Rest des Jahres. Das Trommeln gehört zum Gewerbe, insbesondere wenn es nur noch 40 Wochen bis zu den Wahlen sind. Neben dem üblichen Bombast, daß Amerika größer, demokratischer und einfach besser ist als jede andere Nation, zeichnete sich die Ansprache im außenpolitischen Teil hauptsächlich durch Realsatiren aus. Z.B.: »Wir (Amerikaner) stehen für Gerechtigkeit und die Würde aller Menschen ein«. Das sagt ausgerechnet ein US-Präsident, der weiterhin Guantánamo betreibt und mehr Mordaufträge erteilt hat als irgendeiner seiner Vorgänger.

Sowohl der Kongreß als auch der Präsident leben – was die Außenpolitik betrifft – in einer spiegelverkehrten Welt. So erklärte Obama: »Wenn wir zusammenhalten, dann gibt es nichts, was die Vereinigten Staaten nicht erreichen können. Das ist die Lektion, die wir in den letzten Jahren durch unsere Aktionen im Ausland gelernt haben«. Applaus. Oder: »Die Beendigung des Krieges in Irak hat uns erlaubt, unseren Feinden (Al Qaida) entscheidende Schläge zu erteilen«. Applaus. Oder: »Von dieser Position der Stärke haben wir begonnen, den Krieg in Afghanistan herunterzufahren.« Applaus.

In der Psychiatrie wird das von Obama und dem US-Kongreß gezeigte Krankheitsbild »kognitive Dissonanz« genannt. Sie bestimmte auch die Passagen über Iran: »Durch die Macht unserer Diplomatie ist es uns gelungen, die im Umgang mit Iran geteilte Welt zu vereinen. Jetzt steht Iran allein da.« Applaus. Offensichtlich ist in Washington noch nicht bekannt, daß die große Mehrheit der Welt (China, Indien, Rußland, Brasilien etc. und sogar die Türkei) hinter Iran und nicht hinter den US-EU-Sanktionen steht.

Im innenpolitischen Teil seiner Rede hat Obama jedoch einen Coup gegen die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus gelandet, die sich resolut gegen Steuererhöhungen für Reiche sperren. Warren Buffett, einer der reichsten Männer der USA und der Welt, hatte Obama dazu die Steilvorlage geliefert, als er in einer viel beachteten Zeitungskolumne seine Milliardärskollegen auffordert hatte, mehr Steuern zu zahlen. Es könne nicht angehen, daß seine Sekretärin mit 30 Prozent einen höheren Steuersatz auf ihr Einkommen zahle als er selbst. Genau das machte Obama zum Hauptteil seiner Rede und gab damit das Thema für den Wahlkampf vor. »Wer mehr als eine Million Dollar im Jahr verdient, der sollte mindestens 30 Prozent Steuern zahlen«, rief Obama den Republikanern zu, genau wissend, daß er damit deren Spitzenkandidat für die Präsidentschaftswahlen Mitt Romney hart traf. Die »Heuschrecke« Romney hatte letztes Jahr ein Einkommen von 20 Millionen Dollar, von dem er Dank allerlei Tricks lediglich 14 Prozent Steuern gezahlt hat.

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