Public Transportation vs. Private Horsepower

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Immer mehr junge Amerikaner pfeifen auf den Führerschein

Von Solmaz Khorsand

28. März 2012

Während in den 80er-Jahren noch 80 Prozent aller 18-Jährigen den Führerschein machten, waren es 2008 nur mehr 65 Prozent

Ich wusste es: Früher oder später wird mir mein führerscheinloses Dasein zum Verhängnis. In Amerika bin ich ein Mensch zweiter Klasse. In New York, der Stadt der Fußgänger, sieht man über diesen Makel noch hinweg. Doch sobald ich mich herauswage aus dem Big Apple, gelte ich schlichtweg als Invalide.

Die Entscheidung – getroffen eher aus Gleichgültigkeit und Faulheit -, den Führerschein nicht zu machen, betrachten viele Amerikaner mit Argwohn. Es muss sich ganz eindeutig um eine besondere Störung handeln, die es mir nicht erlaubt, mich hinter das Steuer zu setzen. Offenbar stelle ich eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Oder ich stamme aus einem privilegierten Haushalt, in dem mir immer ein Chauffeur zur Seite gestellt wurde. Und dann wäre da noch die Allzweck-Interpretation: So sind sie halt, die Europäer, diese Snobs, die diese hehre Fortbewegungsmethode nicht zu würdigen wissen.

Doch seit geraumer Zeit bin ich nicht mehr allein. Seit ein paar Jahren macht sich eine Trendwende bemerkbar, vor allem bei jungen Amerikanern. Während in den 80er-Jahren noch 80 Prozent aller 18-Jährigen den Führerschein machten, waren es 2008 nur mehr 65 Prozent. In der Autoindustrie schrillen die Alarmglocken. Wer keinen Führerschein macht, wird auch kein Auto kaufen. Wohin wird das führen?

Ein Stück Amerika am Sterben

Der Jungamerikaner kann sich das Auto, das Benzin, die Versicherung nicht leisten – oder will es sich nicht leisten, weil man in der Stadt leben will, einem die öffentlichen Verkehrsmittel genügen und man die Umwelt schonen möchte. Die Autoren Todd und Victoria Buchholz interpretieren das anders. Die führerscheinlose Gesellschaft sei nichts weiter als eine Generation von Kindern, die den Hintern nicht hochkriegen. Eine Generation von Nesthockern, die lieber auf Facebook über ihre triste Arbeitssituation lamentieren, als die Straßen unsicher zu machen.

Amerikanischer Abenteuergeist ade. Lakonisch stellen die Autoren fest, dass mit der neuen Gleichgültigkeit gegenüber dem Führerschein ein Stück Amerika vom Aussterben bedroht sei. In Zukunft wird es keine Rebellen mehr geben, die sich danach sehnen, den Wind in den Haaren zu spüren, Altes zurückzulassen, um Neues zu erobern, keine verschrobene “Thelma & Louise”-Romantik von Freiheit und Unabhängigkeit mehr.

Vielleicht ist es langsam Zeit, meine Komfortzone des Fußgängers zu erweitern. Diesen Sommern wird der Führerschein gemacht. Dann werden wir ja sehen, ob ich tatsächlich eine Gefahr für die Allgemeinheit bin. (Solmaz Khorsand, derStandard.at, 29.3.2012)

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