Fear of the Broccoli Dictatorship

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Furcht vor der Broccoli-Diktatur

von Nils Rüdel

28.06.2012, 13:36 Uhr

Für Europäer ist es schwer zu verstehen: Warum wehren sich die Amerikaner gegen eine Krankenversicherung für alle? Bei der Entscheidung des Obersten Gerichtshof über die Gesundheitsreform geht es um Amerikas Kern.

Es sind neun honorige Menschen, sie tragen schwarze Roben und ernste Mienen, und sie verkünden heute eine Entscheidung, die viele als „Jahrhunderturteil“ bezeichnen: Die Richter am Supreme Court der Vereinigten Staaten werden darüber befinden, ob die Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama ganz oder teilweise gegen die Verfassung verstößt.

Es geht um ein 2400-Seiten-Monstrum mit dem sperrigen Namen „Patient Protection and Affordable Care Act“, um komplizierte Dinge wie „Individuelles Mandat“ oder „Gesundheitsbörsen“. Die Richter befassen sich aber mit noch viel mehr: Mit einem Symbol, das die tiefe Spaltung Amerikas so deutlich zeigt wie kaum etwas anderes.

„Obamacare“, wie die Reform von Gegnern genannt wird, läuft exakt an jenem tiefen Riss entlang, der das Land teilt. Auf der einen Seite stehen der Präsident und die Demokraten, die mit der teuren Reform mehr Gerechtigkeit herstellen und 32 Millionen unversicherten Amerikanern eine Krankenversicherung ermöglichen wollen. Auf der anderen Seite die Republikaner, die allergisch sind gegen zu tiefe staatliche Eingriffe in das Leben der Bürger, gegen zu viel Macht Washingtons über die Bundesstaaten und gegen neue Kosten für einen überschuldeten Staat. Das Volk positioniert sich etwa je zur Hälfte auf beiden Seiten.

Für Europäer, die ein staatliches Gesundheitssystem gewohnt sind, mag es schwer zu verstehen sein: Was kann man schon gegen eine Krankenversicherung für alle haben? Für Amerikaner berührt diese Frage dagegen den kulturellen Kern: ihre individuelle Freiheit.

Und so tobt um die Gesundheitsreform ein Glaubenskrieg darüber, ob der Staat seine Bürger zwingen darf, ein Produkt zu kaufen – nämlich eine private Krankenversicherung. Es ist der entscheidende Teil des Gesetzes, das so genannte „Individuelle Mandat“. Es soll dafür sorgen, dass auch junge und gesunde Amerikaner für die Versorgung Alter und Kranker mit aufkommen müssen. Darf Washington demnach seine Bürger bald auch zwingen, gesunden Broccoli zu kaufen, wie der konservative Verfassungsrichter Antonin Scalia bei der Verhandlung höhnte? Oder geht es einfach um mehr Solidarität, wenn auch mit staatlichem Druck?

„Obamacare“ war die Zündung für die Tea-Party-Bewegung

Es ist die Systemfrage. Sie muss diskutiert werden, doch eine ernsthafte Debatte war von Anfang an vergebens. „Obamacare“ war vor drei Jahren die Zündung für die konservative Tea-Party-Bewegung, die mit ihrer Radikalität das Klima vergiftete. Die Bilder von Kundgebungen, bei denen Demonstranten Obama-Plakate mit Hitler-Bärtchen oder Stalin-Mütze hochhielten, gingen um die Welt.

Für die Radikalen ist die Gesundheitsreform indes nur ein Teil des ganzen Bösen, das mit Obama über das Land hereingebrochen ist: eine liberalere Einwanderungspolitik etwa, gelockerte Abtreibungsgesetze, Homo-Ehe und vermeintlich schärfere Waffen-Regeln. Und das auch noch ausgeheckt von einem farbigen Präsidenten, der nach Meinung nicht weniger Amerikaner in Wahrheit Moslem ist und eigentlich gar nicht ins Weiße Haus gehört, weil er nicht in den USA geboren sei.

Radikale gibt es in jedem Land, doch in den USA hat es die Tea Party geschafft, die gesamte republikanische Partei vor sich herzutreiben. Mit der Folge, dass sich die Politik derart tief in ihren Schützengräben verschanzt hat, dass Washington fast stillsteht. Der als Versöhner angetretene Obama drischt auf den Gegner ein, wo er nur kann, bei vielen Republikanern gilt „Kompromiss“ als Unwort. Im Vorwahlkampf lieferten sich die Kandidaten ein bizarres Rennen darum, wer der Konservativste und Unnachgiebigste von ihnen ist.

Gewinner Mitt Romney, eigentlich ein Pragmatiker, musste deshalb weit nach rechts rücken. Als Gouverneur von Massachusetts hatte er selbst eine Gesundheitsreform mit einem Individuellen Mandat durchgesetzt. Nun verspricht er, als nächster Präsident das verhasste „Obamacare“ so schnell wie möglich zu kippen.

Vielleicht erledigen das heute aber schon die Richter am Obersten Gerichtshof für ihn. Denn der Riss verläuft auch durch den ehrwürdigen Saal: Hier die fünf konservativen, von republikanischen Präsidenten ernannten Richter, dort die vier liberalen, die von Demokraten ins Amt gebracht wurden.

Erfahrungsgemäß positionieren sie sich meist gemäß dieser Neigung, und die Mehrheit entscheidet. Wie das Urteil ausfallen wird, ist offen. Sicher ist nur: Zur Versöhnung wird der Richterspruch nicht beitragen.

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