Amerika ist im Krieg mit sich selbst
Von Anjana Shrivastava
01.11.2012
Der Wahlkampf polarisiert die Amerikaner: Das Ende des parteipolitischen Stellungskriegs ist ebenso wenig absehbar wie der ideologischen Scharmützel, in denen das Volk inzwischen verstrickt ist.
Fast scheint es, als ob zwei Spitzenpolitiker den Sturm Sandy als eine Erlösung von der Politik selbst empfunden haben: Präsident Barack Obama und sein Erzkritiker Chris Christie, der Gouverneur von New Jersey, besuchten gerade gemeinsam die vom Sturm schwer getroffene Ostküste. Beide Männer, der eine dick, der andere dünn, sprechen ungewohntes Lob füreinander aus, und haben für die Politik nur Verachtung übrig. Hat die hohe Politik in Amerika die Legitimität verloren?
Ein parteipolitischer Stellungskrieg
Der alte Grundsatz, wonach ein gewählter Präsident der Präsident aller Amerikaner ist, scheint heute nicht mehr zu gelten. Nicht nur die Wahl 2012 läuft auf ein bitteres Kopf-an- Kopf-Rennen hinaus, auch die letzten Präsidentschaftswahlen sind fast immer auf Messers Schneide entschieden worden. Der knappe Vorsprung von George W. Bush vom Jahr 2000 im Bundesstaat Florida sorgte noch am Wahlabend für Unruhe. Vier Jahre später hing das Schicksal der Nation von etwa 100.000 Stimmen der Wechselwähler Ohios ab.
Diese mit Not errungenen Siege werfen Probleme auf. Im Mehrheitswahlrecht gilt der Grundsatz: Winner-takes-all, auch dem Sieger, der nur mit Hängen und Würgen gewinnt, fällt am Ende alles zu. Die unterlegene Partei bezweifelt dann die Legitimität der Wahl. Über Floridas Wahlmaschinen wird heute noch gestritten. Nicht nur im Falle George W. Bushs hat das dazu geführt, dass der Präsident die Aura eines Thronräubers anhaftet. Barack Obama sah sich vergleichbarer Feindschaft ausgesetzt. Nicht nur seine Geburtsurkunde und seine Religion wurden angezweifelt, er wurde zum Islamisten und Kommunisten gestempelt.
Egal wie die kommende Wahl am 6. November ausgeht: Das Ende des parteipolitischen Stellungskriegs in Washington ist ebenso wenig absehbar wie der ideologischen Scharmützel, in denen das Volk inzwischen selbst verstrickt ist.
Die Lager befinden sich in einem Kalten Krieg
Auf der einen Seite stehen die demokratischen Anhänger des Neuen Deals, der einst unter der Ägide Roosevelts mit dem fürsorglichen Staat aufbrach, um den wilden amerikanischen Kapitalismus zu zähmen. Für diese überwiegend städtisch geprägten Wähler darf Obama gegen den republikanischen Angriff nicht verlieren, sonst wäre es mit diesem Neuen Deal für Amerika in den Zeiten der Globalisierung endgültig aus.
Umgekehrt geht es den republikanischen Bewohnern des ländlichen und vorörtlichen Amerikas darum, ein älteres Amerika zu verteidigen. Dieses Amerika war sowohl ein sehr offenes aber auch ein sehr hartes Land. Umfragen lassen vermuten, dass dieses Jahr weiße Wähler in einem Ausmaß republikanisch wählen werden wie zuletzt nur bei Ronald Reagan. Denn angesichts der neuen demografischen Verhältnisse Amerikas schwindet mit jedem Urnengang die traditionelle weiße Mehrheit. So erscheint Mitt Romney als der letzte Verfechter des “Lost Cause,” einer bereits verlorenen Sache.
So sind die Anhänger beider Parteien in einer Endzeitfantasie gefangen. Dieser Streit wird so bitter ausgetragen, dass man sich inzwischen fragen muss, ob sich die USA in einem Kalten Krieg mit sich selbst befinden.
Militärische Organisation auf den “Schlachtfeldern”
Die neue Polarisierung findet auch im echten Leben statt: die Amerikaner ziehen zunehmend dort hin, wo sie mit Gleichgesinnten wohnen und wählen können, als wäre das Land wieder auf den Weg, ein Land der Fremden zu werden. Früher gab es wichtige Republikaner im liberalen Nordosten sowie maßgebliche Demokraten im konservativen Süden. Diese Verteilung sicherte ein Meinungsspektrum in beiden Parteien.
Heute ist dieser Pluralismus so gut wie passe. Die demokratischen “blauen” Bundesstaaten setzten sich eindeutig an den Küsten und der Nordgrenze fest, die republikanischen “roten” Bundesstaaten dominieren die Landesmitte. Mehr als 80 Prozent der Wahlbezirke bieten sichere Sitze für eine Partei im Repräsentantenhaus. Folglich müssen sich vier Fünftel der Kongressmänner um die Wähler der Anderen gar keine Gedanken machen.
Dagegen sind Wechsel wählende Bundesstaaten wie Ohio oder Florida zu Frontlinien mutiert. Sie werden mit sündenteurer Propaganda bombardiert, während gespenstische Ruhe in den Regionen hinter den Linien herrscht. In Ohio, vom Vizepräsidentschaftskandidaten Paul Ryan als “das Schlachtfeld der Schlachtfelder” getauft, stehen sich die Sondertruppen der Parteien beinahe militärisch organisiert und unter höllischem Druck gegenüber. Wie in der Geschichte von Grabenkriegen üblich: die gegnerischen Parteien werfen solche Unmengen mobilisierter und verschanzter Fußsoldaten ins Feld, dass die feindlichen Blöcke nicht mehr aneinander vorbei können.
Die Supermacht hat existenzielle Sorgen
Freilich, diese beiden Amerikas existieren im Grunde seit Jahrzehnten. Denn in den ökonomisch guten Jahren existierte von Küste zu Küste alles nebeneinander in einem wilden Wirrwarr. Es gab zwar einen begrenzten Wohlfahrtsstaat, die Landesgrenzen blieben aber dennoch weit offen. Die Bevölkerung wuchs rasant vom 152 Millionen im Jahr 1950 auf 248 Millionen 1990 bis heute auf 311 Millionen. Innerhalb dieser 60 Jahre, in denen Amerika sich verdoppelte, avancierte das Land zur unbestrittenen Supermacht.
Die Republikaner unter Bush wollten diesen Wirrwarr beibehalten. Doch mit ihrem denkbar knappen Sieg im Jahr 2000 unternahm George W. Bush das große Wagnis, eine ambitionierte Außenpolitik trotz demokratischer Bedenkens zu entfalten. Doch der schlecht vorbereitete Irakkrieg und die folgende Finanzkrise verprellten die Wähler.
In der Stunde dieser Ernüchterung versuchte Präsident Obama in dem flüchtigen Moment, in dem er beide Häuser kontrollierte, den Wohlfahrtstaat auszubauen. Doch die schlecht konzipierte Gesundheitsreform überforderte ein Land der steigenden Arbeitslosigkeit. Schon allein am Anfang des neuen Jahrtausends gingen mehr als 7 Millionen industrielle Arbeitsplätze verloren. Welcher ausgewachsene Wohlfahrtsstaat Europas hätte sich über die Interessen der einheimischen Arbeiter derart hinweggesetzt, und das bei geduldeter illegalen Einwanderung? Die Offenheit des alten, harten Amerikas verträgt sich schlecht mit Obamas schlecht kalkulierter Milde.
Mehrheiten brauchen Versöhnung
So handelten beide Parteien nach ihren knappen Siegen mit Hybris, versuchten sich politische Denkmäler zu setzen, teils aus Hoffnung auf ewige Mehrheiten, teils aus Angst nie wieder zu herrschen. Und die Verlierer reagierten wie Nemesis selbst, die Rachegöttin, die den Größenwahn zur Strecke bringen muss. So beendete Obama die Kriege von Bush mit lauter Ansage des Abzugsdatums, und so drohen nun die Republikaner die Gesundheitsreform zurückzufahren.
Die Parteien selbst sind unfähig, untereinander einen Konsens aushandeln. Ist der Waffenstillstand zwischen Gouverneur Christie und Obama in diesen Tagen mehr als die Geste eines Augenblicks, mehr als die Selbstrettung eines hinter die Linien geratenen republikanischen Gouverneurs im demokratischen Nordosten? Der nächste amerikanische Präsident, egal wer, muss wohl auf eigene Faust wagen, die feindlichen Lager zu versöhnen. Das Land wird in Zukunft jedenfalls sehr mit sich selbst beschäftigt sein.
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