Massaker zu Weihnachten
Von Berthold Kohler
16.12.2012
Die Amerikaner müssen sich fragen, was ihnen mehr bedeutet: das Recht, Waffen zu tragen, oder Schulen und Universitäten ohne Todesangst. Ein Kindermassenmord im Advent ist nicht Teil des amerikanischen Traums.
Nach dem Massaker von Newtown stellen sich den Hinterbliebenen in Connecticut, aber auch den mitfühlenden Menschen in aller Welt wieder die Fragen, die sich schon bei den vorausgegangenen Massenmorden in das Entsetzen, in die Verzweiflung und in die Wut mischten: Wie kann Gott das zulassen? Welcher Dämon hat den Täter dazu gebracht, ein derartig monströses Verbrechen zu begehen? Und warum, um Himmels Willen, wollen die Amerikaner nicht von ihren Schießprügeln lassen, mit denen ihre jungen Männer ihre noch jüngeren Kinder abschlachten?
Weil der Besitz und das Tragen von Revolvern und Gewehren, so anachronistisch das vor allem Europäern vorkommt, nach wie vor zum „American way of Life“ gehört. Das Recht zur Selbstverteidigung mit Waffengewalt, das die Pioniere bei der Eroberung des Westens für sich beanspruchten, genießt in Amerika Verfassungsrang; hinter ihm steht die uramerikanische Überzeugung, dass der Bürger auch auf dem Feld der Sicherheit selbst für sich sorgen kann – und dass er das Gesetz sogar selbst in die Hand nehmen müsse, wenn der Staat wieder einmal versage, etwa beim Beschützen seiner Schüler. Noch nach jedem Amoklauf wurden Stimmen laut, die behaupteten, es hätte nicht so viele Opfer gegeben, wenn diese selbst bewaffnet gewesen wären. Die Wahnsinnstat von Newtown führt freilich auch den Irrsinn dieses Arguments vor Augen: Die großkalibrigen Pistolen und das Sturmgewehr, mit denen der Zwanzigjährige an der Sandy-Hook-Grundschule um sich schoss, gehörten seiner Mutter, die dort früher einmal gearbeitet haben soll. Er tötete sie als Erste.
Noch mehr Waffen in Schultaschen, Nachttischschubladen und Registrierkassen werden Amerika nicht sicherer machen. Der Friedensnobelpreisträger Obama will daher abermals den Versuch unternehmen, seine Bürger (es geht bei weitem nicht nur um die „Waffenlobby“) von der Notwendigkeit wenigstens strengerer Kontrollen und Auflagen zu überzeugen. Seine bescheidene Abrüstungsinitiative aus der ersten Amtszeit kam nicht weit. Doch quält ihn jetzt nicht mehr die Sorge um seine Wiederwahl. Und auch die Republikaner müssen sich, wie alle Amerikaner, fragen, was ihnen mehr bedeutet: das Recht, Waffen zu tragen, oder Schulen und Universitäten, die frei sind von Todesangst. Ein Kindermassenmord zu Weihnachten war bisher nicht Teil des amerikanischen Traums.
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