Waffentragen als grundlegendes Freiheitsrecht
Von Andrian Kreye
18. Dezember 2012
Die Vereinigten Staaten von Amerika sind vom alten Kontinent aus nur schwer zu verstehen: Rasen und Rauchen sind de facto abgeschafft, Prostitution nicht ganz. Das Recht auf Waffentragen gilt jedoch als fundamental. Trotz mehr als 10.000 Erschossenen pro Jahr. Doch nun sind Kinder gestorben. Der höchste Preis, den eine Gesellschaft bezahlen kann.
Amerika ist ein seltsames Land. Es ist das Land, in dem der Vorsitzende des Vereins amerikanischer Waffenbesitzer (Gun Owners of America), Larry Pratt, kurz nach dem Amoklauf an der Grundschule von Newtown öffentlich sagen konnte, dass es doch nun an der Zeit sei, das Waffenverbot an Schulen aufzuheben. Wären die Lehrer und Hausmeister bewaffnet gewesen, hätten sie den Amokläufer schon gestoppt. Es ist das Land, in dem der konservative Politiker Mike Huckabee im Fernsehen behaupten durfte, das Massaker sei geschehen, weil man Gott aus den Schulen vertrieben habe.
Aus europäischer Sicht ist der Stand der Dinge eindeutig: Was diskutiert Amerika denn überhaupt über schärfere Waffengesetze? Es sollte doch nicht mehr um “gun control” gehen, sondern um ein generelles Waffenverbot. Das mag anmaßend sein. Ganz abwegig ist es nicht.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben die USA fünf große Versuche einer Prohibition lanciert, und immerhin zwei davon haben funktioniert. Wenn man sich die Einzelfälle genauer anschaut, versteht man, warum es Amerika so schwerfällt, Waffen einfach zu verbieten.
Nicht so gut funktioniert haben die Versuche, das Saufen und den Sex zu regulieren. Das Alkoholverbot, das der amerikanische Senat am 16. Januar 1919 mit dem 18. Verfassungszusatz verabschiedete, war eine der folgenreichsten politischen Fehleinschätzungen in der Geschichte der westlichen Zivilisation. Die 13 Jahre der Prohibitions-Ära legten das Fundament für eine Schattenwirtschaft, in der die Routen der amerikanischen Alkoholschmuggler die Infrastruktur für ein organisiertes Verbrechen schafften, das sich bis heute über alle fünf Kontinente ausgebreitet hat.
Nichts ist so gut fürs illegale Geschäft wie ein Verbot
Nicht umsonst beginnt die Fernsehserie “Boardwalk Empire” über die Verwicklungen zwischen Politik und Verbrechen während der Zwanzigerjahre damit, dass die Mafiosi von Atlantic City den Beginn des Alkoholverbots mit einem rauschenden Champagnerfest feiern. Nichts ist so gut fürs illegale Geschäft wie ein Verbot.
Den gewerblichen oder auch nur sündigen Sex haben die amerikanischen Gesetzgeber nicht ganz so stringent bekämpft. Die Moraloffensive begann 1873 mit dem Gesetz des prüde gesinnten obersten Postinspektors Anthony Comstock, der den Postversand von “obszönem, lüsternem und laszivem Material” unter Strafe stellte. Heute ist es vor allem die Prostitution, die in sämtlichen Bundesstaaten außer Nevada verfolgt wird. Was wiederum eine Schattenwirtschaft geschaffen hat, in der sehr viel mehr Geld auf Kosten von Frauen und Freiern verdient wird als beispielsweise in Ländern wie Deutschland und den Niederlanden, die einen bürokratischen Zugang zum Sexgewerbe gefunden haben.
Ganz gut funktioniert haben die Prohibitionen des Rasens und des Rauchens. Das Gesetz für eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 55 Meilen pro Stunde wurde während der Ölkrise von 1973 aufgesetzt. Man hoffte, den Benzinverbrauch zu senken und sich so aus der Abhängigkeit von Opec-Staaten zu winden. Eine Milchmädchenrechnung: Die effektive Ersparnis belief sich auf knappe ein Prozent. Dafür sank die jährliche Zahl der Verkehrstoten um rund zehntausend, was einem Minus von etwa 18 Prozent entsprach. Aus den Zahlen wurde bald Konsens. “Coasting” und “cruising” sind heute die Weisen des amerikanischen Autofahrers, der “speeding” höchstens auf deutschen Autobahnen kennt.
Soziale Abschaffung des Rasens und Rauchens
Die sanfte Prohibition des Rauchens gelang jedoch bisher am besten. Sie war ein schleichender Prozess, der mit Aufklärungsarbeit über die gesundheitlichen Folgen des Rauchens begann. Eine Welle der Schadenersatzprozesse, die in den Achtzigerjahren begann, kostete die Tabakindustrie Milliarden. Vor allem aber ihr Image.
Bald folgten die Verbote. Erst wurde das Rauchen in öffentlichen Gebäuden untersagt, dann in Lokalen, Bars, Mietwohnungen, an Stränden, in Fußgängerzonen, in der Umgebung von Schulen. Gleichzeitig wurde die Tabaksteuer empfindlich angehoben. In New York kostet ein Päckchen Zigaretten heute um die zwölf Dollar.
Was all diese Maßnahmen erreichten, war ein neuer gesellschaftlicher Konsens. Es mag kein gesetzliches Verbot des Rauchens geben. Sozial ist das Laster in Amerika heute verfemt. Die einstmals coole Gestik gilt als vulgär. “Cigarette breath” ist in amerikanischen Reportagen ein Mittel, um eine Person als unangenehm zu beschreiben. Und seit eine gesunde Lebensführung zum Distinktionsmerkmal der gebildeten Stände wurde, ist die Zigarette in den USA heute so etwas wie der Mittelstreifen auf der Straße der Verlierer.
Reine Moralfeldzüge führen in westlichen Zivilisationen zu nichts
Den Krieg gegen die Drogen, den Präsident Richard Nixon 1971 erklärte, muss man an dieser Stelle ignorieren, weil er unterkomplex unterschiedliche Phänomene wie Marihuana und Crystal Meth über einen Kamm schert. Was die misslungenen Prohibitionen von Saufen und Sex und die gelungenen von Rasen und Rauchen deutlich zeigen, ist eine Kette, an deren Ende nicht nur ein Gesetz, sondern ein Wandel steht, den die Gesellschaft nicht zugelassen, sondern ganz dezidiert gewollt hat.
Reine Moralfeldzüge führen in den westlichen Zivilisationen zu nichts. Sie dienen dazu, politische Lager zu polarisieren. Anthony Comstocks “New York Society for the Suppression of Vice” (Gesellschaft für die Unterdrückung von Lastern) galt selbst im viktorianischen Amerika des 19. Jahrhunderts als Verein prüder Fanatiker und Spinner. Abstinenzler-Lobbys wie die “Women’s Christian Temperance Union” und die “Anti-Saloon-League” verschwanden mit dem Ende der Prohibition 1933.
Die soziale Abschaffung des Rasens und des Rauchens waren dagegen die Folgen gesellschaftlicher Rechnungen mit eindeutigen Ergebnissen: Die Kosten des Rasens und Rauchens waren höher als der vermeintliche Nutzen. Die vielen Verkehrstoten waren meist jüngeren Alters. Die Kosten des Rauchens fasste das “Center of Disease Control” vor ein paar Jahren in präzise Zahlen: 167 Milliarden Dollar gehen der Volkswirtschaft alljährlich durch das Rauchen verloren. Das gliedert sich in Behandlungskosten von rund 75, sowie Produktivitätsverlust von rund 62 Milliarden Dollar.
Mehr als 10.000 Amerikaner werden jährlich erschossen
Nun sollte man meinen, dass die Zahlen auch im Streit um Waffengesetze eindeutig sind. Über 10.000 Amerikaner werden jedes Jahr erschossen. In europäischen Ländern liegt die Zahl meist weit unter einhundert. Und auch das bizarre Phänomen des Amoklaufes steht offensichtlich in direktem Zusammenhang mit der Waffengesetzgebung. In Australien erließ die Regierung nach einem Amoklauf im Jahr 1996 strenge Waffengesetze. In den 18 Jahren zuvor hatte es 13 solcher Massenmorde gegeben. In den Jahren danach keine.
Doch die Rechnungen gingen bisher nicht auf, weil es der Waffenlobby immer gelang, die Debatte auf einer moralischen Ebene zu halten. Grundlage dafür war eine fundamentalistische Lesart des zweiten Verfassungszusatzes. Der garantiert den Bürgern Amerikas das Recht, eine Miliz zu gründen und Waffen zu tragen.
Zwar stammt dieser Zusatz aus dem Jahr 1791, als noch die ganz reale Gefahr bestand, dass König George III. versuchen könnte, die abtrünnige Kolonie zurück ins Empire zu holen. Und doch kann man aus einer wörtlichen Lesart den Schluss ziehen: Wer gegen das Recht auf das Waffentragen ist, der ist auch gegen das grundlegende Freiheitsrecht Amerikas. Die Freiheit ist nach dem amerikanischen Verständnis das höchste aller Güter. Ganze Generationen waren während der vergangenen Jahrhunderte bereit, dafür zu sterben.
Der Amoklauf von Newtown hat allerdings eine Komponente in der Rechnung verschoben. Es waren kleine Kinder, die gestorben sind. Der Tod von Kindern ist für jede Gesellschaft der höchste Preis, den sie bezahlen kann. Barack Obama hat nun ein kleines Zeitfenster, in dem er doch noch eine Rechnung anstellen kann. Es sind zwar nicht die gesellschaftlichen oder die volkswirtschaftlichen Kosten, die hier eine Rolle spielen. Doch vielleicht sind Amerika die emotionalen Kosten von Newtown einfach zu hoch, um die Waffendebatte zu den moralischen Akten zu legen.
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