Sein Platz in der Geschichte
von Christoph von Marschall
23.01.2013
In den Reden nach seinem Wahlsieg und bei der Inauguration darf Barack Obama sich Poesie erlauben. Regieren muss er Amerika jedoch in Prosa.
Was war denn das für eine Rede? In einer guten Viertelstunde hat Barack Obama es allen recht gemacht – und zugleich keinem. Das liegt ganz im Ohr des Zuhörers. Für jene, die ihn kämpfen sehen möchten, breitete er Vorhaben für die zweite Amtszeit aus, die ihn als Progressiven ausweisen: Klimaschutz, Gleichstellung der Homosexuellen, Sicherung der Sozialsysteme, Waffenrecht. Eine Regierungserklärung, wie er das zu erreichen gedenke, bot er nicht. Er ging aber auch auf die Konservativen zu: Amerika setze auf freies Unternehmertum. Niemand dürfe glauben, dass der Staat für die Lösung aller Probleme zuständig sei. Und schon gar nicht gehe es ihm um den Sieg einer Weltanschauung über die andere.
Er beschwor den Zusammenhalt dieser vielfältigen Gesellschaft mit ihren Minderheiten und auseinanderstrebenden Interessen. Eindringlich bat er um Kooperation. Erfolg könne man nur gemeinsam haben. Und das bedeute selbstverständlich, dass keine Seite ihre Wünsche ganz durchsetze. Jeder kleine Sieg sei mit einer kleinen Niederlage zu bezahlen. Amerika steht an einer Weggabelung.
Die nächsten vier Jahre können politische Blockade bedeuten oder zu einer Ära begrenzter Reformen werden wie in Bill Clintons zweiter Amtszeit. Obama wurde trotz schlechter Ausgangsposition wiedergewählt. Das verleiht ihm Macht. Die Republikaner haben ihre Mehrheit im Abgeordnetenhaus jedoch verteidigt. Gegen sie läuft gar nichts. Obama kämpft jetzt um seinen Platz in den Geschichtsbüchern. Den gewinnt er nur, wenn er die Konservativen zu weiteren Reformen bewegen kann: Schuldenabbau, Einwanderungsrecht, Energiepolitik. Für die Republikaner geht es um ihre Zukunft. Sie müssen sich öffnen, sonst werden sie bald keine nationale Wahl mehr gewinnen können. Öffnen für die Latinos, die größte und am schnellsten wachsende Minderheit. Öffnen auch für Homosexuelle.
Das Wahlergebnis hat nur den groben Rahmen abgesteckt. Die tatsächliche Machtverteilung wird jeden Tag neu ausgehandelt. Des Präsidenten schärfste Waffe sind die öffentliche Rede und die darauffolgenden Meinungsumfragen sowie sein Vetorecht gegen Parlamentsbeschlüsse. Die Republikaner können ihm mit ihrer Parlamentsmacht jedoch die Luft zum Handeln abschnüren, ihm Abwehrkämpfe um den Haushalt aufzwingen und ihm die Bestätigung seiner Minister und Behördenleiter verweigern. In den Reden nach einem Wahlsieg und bei der Inauguration darf Obama sich Poesie erlauben. Regieren muss er jedoch in Prosa. Wenn er etwas erreichen will, wird er sich von seiner Partei lösen, den Republikanern Kompromissangebote unterbreiten, sich als Präsident über beiden Lagern positionieren und um öffentliche Zustimmung für pragmatische Lösungen werben. Und sobald sich bei den Republikanern jene durchsetzen, die nicht in Treue zur hergebrachten Ideologie untergehen, sondern 2014 die Kongresswahl und 2016 die Präsidentenwahl gewinnen wollen, werden sie hier und da auf Obamas Werben eingehen.
Garantiert ist diese Wende zum Pragmatismus nicht. Falls der Streit um das Waffenrecht und die Schuldenobergrenze eskaliert, kann sich die Konfrontation sogar verschärfen. Im Moment mehren sich aber die Zeichen, dass die Republikaner von der nackten Erpressung, die sie im Sommer 2011 und jetzt in den Wochen seit der Wahl praktiziert hatten, Abstand nehmen. Es liegt an Obama, diese Signale zu erwidern. Der Moment für den Wechsel von Poesie zu Prosa ist jetzt.
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