Obama's Turning Point

<--

Obamas Wende

Von Martin Klingst

26.04.2013

Wieder einmal scheint es so, als ob Amerika auf eine terroristische Bedrohung überreagiert. Der Eindruck täuscht.

Panzerwagen fahren auf, und 9.000 bis an die Zähne bewaffnete Polizisten machen Jagd auf einen einzigen Mann. Auf einen gerade einmal 19 Jahre alten Studenten, der beschuldigt wird, mit zwei Bomben drei Menschen getötet und mehr als 170 verletzt zu haben. Als drohe der Millionenstadt ein Inferno, wird Boston einen Tag lang abgeriegelt, werden die Bewohner aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Die Fernsehsender überschlagen sich mit immer neuen Schreckensnachrichten, und auf Twitter lässt sich die Suche nach Dschochar Zarnajew, einen Amerikaner russischer Herkunft, live verfolgen.

Angesichts dieser kriegsähnlichen Bilder fragen wir uns in Europa: Drehen die Amerikaner im Kampf gegen den Terror wieder einmal durch? Finden sie auch unter Barack Obama Maß und Mitte nicht?

Sofort werden auch die bösen Geister von Guantánamo wieder wach. Eine gnadenlose Regierung, die meint, für Terroristen gelte der Rechtsstaat nicht. Ein hemmungsloser Überwachungsstaat, der nach den Anschlägen vom 11. September 2001 viele Innenstädte mit Tausenden von Kameras ausgerüstet hat, die jede Bewegung der Bürger festhalten. Der Bombenanschlag von Boston wird diesen Trend fortsetzen.

Auch brechen sogleich die alten ideologischen Gräben wieder auf. Kaum ist der junge Dschochar Zarnajew gefasst, fordern rechte Politiker, ihn unverzüglich als “feindlichen Kombattanten”, als Gefangenen aus dem Antiterrorkrieg vor ein Militärtribunal zu stellen. Ihr altes, unseliges Argument: Das Sonderverfahren erlaube es, den Beschuldigten beliebig auszuhorchen und sein Recht auf Aussageverweigerung einstweilen aufzuheben.

Die bösen Geister von Guantánamo

Doch nur auf den ersten Blick schien Amerika in den vergangenen zehn Tagen in den Unrechtszustand der Bush-Ära zurückzufallen. Denn im Grunde handelte der Staat mit Bedacht und Augenmaß. Natürlich passierten Pannen und Fehler. Auch führte nicht die Ausgangssperre zur Ergreifung des Gesuchten, sondern erst deren Aufhebung. Nicht einer der 9.000 ausschwärmenden Polizisten entdeckte das Versteck in einem Boot, sondern ein aufmerksamer Bewohner, als er wieder auf die Straße durfte.

Doch was wäre die Alternative zum martialischen Polizeieinsatz gewesen? Terrorbekämpfung ist immer eine Gratwanderung, und hinterher ist man stets klüger. Die zwei mutmaßlichen Bombenleger schienen zum Äußersten entschlossen und wollten maximale Verheerung anrichten. Auf ihrer Flucht erschossen sie einen Polizisten, entführten einen Autofahrer und warfen Granaten auf ihre Verfolger. Sie besaßen weitere Bomben, und der bei einem Schusswechsel getötete ältere Bruder trug, wie es heißt, sogar einen Sprengstoffgürtel. Auf jeden Fall konnte die geballte Staatsmacht wenigstens verhindern, dass weitere Menschen zu Schaden kamen. Die Einwohner des linksliberalen Boston dankten es Polizei und FBI mit stundenlangen Jubelrufen. Der Ausnahmezustand dauerte keine 24 Stunden, in Massachusetts redet darum niemand von einer Überreaktion.

Überhaupt hat sich in Boston der Welt ein neues, selbstbewusstes, ja fast abgeklärtes Amerika präsentiert – und ein inmitten der Terrorgefahr umsichtig agierender Präsident. Das war keineswegs selbstverständlich. Obamas Rechtsstaatsbilanz fällt bislang eher dürftig aus. Manches handhabt er kaum besser als sein hemdsärmeliger Vorgänger George W. Bush. Und Obama hat wichtige Versprechen gebrochen. Das Gefangenenlager in Guantánamo existiert immer noch, ebenso das Militärtribunal. Der Präsident unterzeichnete sogar ein Gesetz, das es erlaubt, besonders gefährliche Terrorverdächtige ohne Prozess dauerhaft wegzusperren. Zu Recht geben ihm die Bürgerrechtsverbände schlechte Noten.

Obama hat eine wichtige Wende vollzogen

Obama ist auch nach wie vor ein Befürworter der Todesstrafe, die inzwischen selbst in Amerika immer seltener verhängt und vollstreckt wird. Der Bundesstaat Massachusetts, in dem Boston liegt, hat sie sogar abgeschafft. Doch der Präsident wird darüber hinweggehen und seine Bundesjustiz darin bestärken, diese ultimative Strafe gegen Zarnajew zu beantragen – und sei es nur, um sie später gegen ein umfassendes Geständnis in eine lebenslange Freiheitsstrafe umwandeln zu können. Einen derartigen Handel schlossen die Ankläger einst auch mit Timothy McVeigh, dem rechtsextremen Attentäter von Oklahoma City, der vor genau 18 Jahren, am 19. April 1995, mit einer Bombe 168 Menschen umbrachte und über 800 verletzte.

Hysterie und Panik auf Twitter

Und dennoch hat Obama jetzt eine wichtige Wende vollzogen und sich damit von der Bush-Ära distanziert. Ungeachtet des rechten Furors, ordnete er über seinen Justizminister an, den Terrorprozess nach allen Regeln des Rechtsstaats zu führen. Noch am Krankenhausbett wurde Zarnajew belehrt, dass er sich nicht selbst belasten müsse und die Aussage verweigern dürfe. Ihm wurde ein renommierter Pflichtverteidiger zur Seite gestellt, und die Anklage wegen Mordes mit Massenvernichtungswaffen wird nicht vor einem Militärtribunal, sondern vor einem ordentlichen Strafgericht erhoben.

Hysterie und Panik herrschten allein auf Twitter und in den politischen Talkshows. Im Lagezentrum in Boston und im Weißen Haus wurde dagegen ruhig und besonnen entschieden.

About this publication