Bedeutet Obamas Rede die Rückkehr der Moral in den amerikanischen Anti-Terror-Kampf? Strengere Regeln für den Drohnenkrieg, sein Vorstoß zur Schließung von Guantanamo und der Schlussstrich unter die Bush-Jahre wirken auf den ersten Blick wie ein Neubeginn. Doch die Wahrheit ist: Amerika ist weiterhin in der Logik der Ära Bush gefangen.
Der moderne Mensch besitzt zwei Arten von Moral, stellte einmal der Philosoph Bertrand Russell fest: eine, die er predigt. Und eine andere, die er anwendet, aber nicht predigt.
Barack Obama ist nicht nur ein moderner Mensch, er ist auch der intellektuell herausforderndste US-Präsident seit Langem. Er hält eine sicherheitspolitische Grundsatzrede, die stellenweise einem moralphilosophischen Seminar ähnelt; er ist ein Oberster Befehlshaber, der seine eigene Politik nicht nur erklärt und verteidigt, sondern auch kritisiert – wer hätte sich das bei den Bushs, Bill Clinton oder Ronald Reagan vorstellen können?
Und doch war es längst überfällig, die Frage nach der Verhältnismäßigkeit zu stellen: Warum haben die USA in den vergangenen zehn Jahren Tausende Menschen durch Drohnenangriffe getötet, leise per Fernsteuerung, auf fremdem Territorium und ohne Prozess? Wie kann sich eine Nation das “Land der Freien und Heimat der Tapferen” nennen, die sich in einem endlosen “Krieg gegen den Terror” befindet und immer noch 166 Menschen im völkerrechtlichen Niemandsland Guantanamo gefangen hält?
Ein Präsident, gefangen in der Realpolitik
Wie man die Antworten des 44. Präsidenten bewertet, hängt von der Akzeptanz der zweiten Russell’schen Moralebene ab, die sich im Politischen schlicht Realpolitik nennt. Ein US-Präsident ist immer Teil des über Jahre und Jahrzehnte gewachsenen Sicherheits- und Militärapparates, in dessen Logik und Praxis moralische Fragen eine untergeordnete Rolle spielen. Er muss zudem traditionell Stärke und Entschlossenheit demonstrieren – Eigenschaften, die Obama inzwischen ob der Blockadehaltung im Kongress häufig einzig rhetorisch verkörpern kann.
Sehen wir Obama als Politiker mit eng begrenzter Machtfülle, hat er mit seiner Rede Türen geöffnet: Er hat den “Krieg gegen den Terrorismus”, wie ihn die Welt aus den Bush-Jahren kennt, faktisch für beendet erklärt. Damit hat er fast zwölf Jahre nach dem 11. September 2001 das Fundament für ein weniger hysterisches, aber auch zurückgezogeneres Amerika gelegt.
Mit der neuen Initiative zur Schließung Guantanamos hat Obama, egal wie niedrig die Erfolgsaussichten sein mögen, seinen Willen bekräftigt, die USA in dieser Frage wieder im Rahmen des internationalen Rechts zu positionieren. Die angekündigte Einschränkung des Drohnenkriegs durch ein strengeres Regelwerk ist eine notwendige Kurskorrektor nach Jahren eines unkontrollierten Schattenkrieges.
Und doch: Selbst dem Realpolitiker Obama wäre mehr zuzutrauen gewesen. Zu der entscheidenden Frage, wie er mit Guantanamo-Häftlingen umgehen möchte, die er für nicht anklagbar und gleichzeitig zu gefährlich für eine Freilassung hält, kam von ihm kein Vorschlag, kein Bekenntnis zu einem rechtsstaatlichen Prozedere.
Die Logik des Anti-Terror-Krieges ist noch allzu präsent
Auch die Rechtfertigung des Drohnenkrieges wirkte, trotz oder wegen aller artikulierten Selbstzweifel, schwach: Sie seien “effektiv” und dienten amerikanischen Interessen, dem Schutz der eigenen Bürger. Das Argument ist nicht nur in der moralischen Theorie fragwürdig: Dient die Radikalisierung von Pakistanern, Afghanen, Jemeniten und Somaliern durch solche Angriffe wirklich am Ende der Sicherheit Amerikas? Würden die USA es etwa akzeptieren, wenn China, Russland oder Iran mit Drohnenangriffen die Souveränität anderer Länder verletzen würden? Und was ist das Bekenntnis zu einem eingeschränkten Drohnenkrieg wert, wenn der Staat weiterhin die Rolle des Ermittlers, Richters und Henkers zugleich ausfüllt?
In Anbetracht dieser Mängel bleibt Obamas Schlussstrich unter die Bush-Jahre unvollständig. Die USA beanspruchen weiterhin die Rolle des Hegemonen im Anti-Terror-Kampf, der am Ende die Regeln selbst bestimmen kann. Die Moral, die Obama predigt, mag ein geläutertes Amerika versprechen. Doch die Moral, die er anwendet, ist noch immer tief mit der Logik des 11. September 2001 verwoben.
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