Barry und die Gedankenpolizei
Christoph Prantner
10. Juni 2013
Kein Präsident hat Whistleblower mit so heiligem Eifer verfolgt wie Obama
Es war schon dunkel geworden, als der Mann endlich im Burggarten auftauchte. Wir saßen im Freien. Er drehte sich nach links, rechts und nach hinten. Dann erst begann Daniel Ellsberg mit dem Interview. Der “gefährlichste Mann Amerikas” (Copyright Henry Kissinger) war immer noch misstrauisch, witterte einen Geheimdienstler hinter jedem Busch. Und er hatte auch in Wien noch allen Grund dazu: Anfang der 1970er-Jahre hatte er nächtens 7000 Seiten Geheimdokumente, die “Pentagon Papers”, kopiert. Das Material belegte die systematische Irreführung der amerikanischen Öffentlichkeit in Sachen Vietnamkrieg. Die New York Times und die Washington Post veröffentlichen wochenlang Auszüge daraus. Der Skandal markierte den Anfang vom Ende des Vietnamkrieges. Ellsberg wurde dafür angeklagt – und freigesprochen.
“Damals”, sagte er, “war die Gesetzeslage in den USA noch eine ganz andere, das Recht war auf meiner Seite.” Heute, nach 9/11 und Wikileaks, sieht die Welt ganz anders aus. Und Edward Snowden, der “Whistleblower” hinter dem Prism-Skandal, muss ernsthaft damit rechnen, den Rest seiner Tage hinter Gittern zu verbringen.
Er, ein tief enttäuschter ehemaliger Unterstützer Präsident Barack Obamas, hat den umfassenden US-Überwachungsapparat mit gutem Gewissen öffentlich gemacht und wird nun die volle Härte der neuen Gesetzeslage zu spüren bekommen. So wie Bradley Manning, der Wikileaks-Informant, der seit Jahr und Tag in Einzelhaft sitzt. Damit will Obama sicherstellen, dass die US-Gedankenpolizei weiterhin möglichst umfassend und rasch über die “Gedankenverbrechen” (George Orwell in 1984) von Menschen in aller Welt informiert ist.
“Peeping Barry” (die New York Times über Obama) lässt wie kein Präsident vor ihm die gesetzlichen Möglichkeiten gegen Bürger ausschöpfen, die eigentlich nur ihrer ersten Bürgerpflicht nachkommen, nämlich für ihre Rechte und ihre Freiheit einzustehen. Es scheint fast, als führe er einen Feldzug gegen die Verräter, die es wagen, seiner Politik zu widersprechen. Einen Feldzug gegen jene, die Geheimniskrämerei nicht als konstituierendes Merkmal fortgeschrittener Demokratien ansehen.
Wie Ellsberg und Manning wird auch Snowden nach dem Espionage Act aus dem Jahr 1917 angeklagt werden, das den Geheimnisverrat, das Weitergeben von Dokumenten an den Feind, unter Strafe stellt. Obamas Regierung leitete auf dieser Grundlage in sechs Fällen Anklage ein – doppelt so oft wie alle Präsidenten vor ihm zusammengenommen.
Damit konterkariert Barack Obama nicht nur alle seine Ankündigungen über Transparenz, Offenheit und Wiederherstellung der vollen Rechtsstaatlichkeit, die er unmittelbar nach seinem Amtsantritt 2009 gemacht hat. Er spielt implizit auch das weiter, was er zuletzt in einer großen Grundsatzrede zu beenden vorgab: den Krieg gegen den Terrorismus. Denn wo Prozesse über einen Verrat an einen Feind geführt werden, muss ein Krieg sein – wennschon nicht gegen blutrünstige Terroristen, dann doch gegen die eigenen Bürger.
Noch einmal Ellsberg im Burggarten: “Wir haben die Infrastruktur eines Polizeistaates. Sicher, es ist noch kein Polizeistaat, aber nur, weil wir ihn noch nicht eingeschaltet haben. Dafür fehlt ein weiteres 9/11.” Fehlt es tatsächlich? Nach den Prism-Enthüllungen kann der letzte Satz des Zitats getrost gestrichen werden. (DER STANDARD, 11.6.2013)
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