Noch vor Tagen zitierten Tea-Party-Republikaner Umfrageergebnisse, um ihren Schlachtruf zu unterfüttern: Das Volk fürchtet Obamas Gesundheitsreform! Tatsächlich versprach sich Mitte September nicht einmal jeder vierte Befragte von „Obamacare“ eine Verbesserung des Gesundheitswesens, während fast jeder zweite Schaden auf Amerika zukommen sah. Dumm nur für die Republikaner, dass dieselben Meinungsforscher jetzt neue Zahlen haben. Mit fast genauso großem Abstand gibt die Mehrheit der Amerikaner den Republikanern die Hauptschuld daran, dass viele Bundesbehörden seit Monatsbeginn geschlossen sind, weil der Kongress blockiert ist. Die Taktik, den Haushalt und womöglich gar die Zahlungsfähigkeit Amerikas als Geiseln zu nehmen, um den Präsidenten zu nötigen, die Gesundheitsreform zurückzudrehen, trifft auf wenig Verständnis. Überhaupt haben nur noch 24 Prozent ein freundliches Wort für die Republikaner übrig, und noch weniger mögen die Tea Party. Barack Obama hat es dagegen in den vergangenen zwei Wochen verstanden, seine Gesundheitsreform mehr Amerikanern schmackhaft zu machen.
All das hatten konservative Parteistrategen vorhergesagt. Doch es brauchte offenbar einen demoskopischen Beleg, damit Washingtons oberster Republikaner John Boehner mit der moderaten Mehrheit seiner Abgeordnetenmehrheit einen Schritt in Richtung Verständigung wagen konnte. Die Konfrontation ist damit beileibe nicht beendet. Amerika steht ein hässlicher Herbst mit einer Budgetdebatte bevor, in der selbstgerechte Prinzipienreiter auch weiterhin alles daransetzen werden, mit einer Politik der Parolen einen Ausgleich der Vernünftigen zu hintertreiben.
Der Haushaltsnotstand wird die Tea Party nicht entzaubern
Dabei ist es ja kein republikanisches Hirngespinst, dass Amerika sein Defizit nur in den Griff bekommt, wenn es seine Sozialprogramme durchkämmt. Umgekehrt ist es aber auch keine Perversion des Freiheitsgedankens, wenn die Demokraten die Armut nicht tolerieren wollen, die sich in den Nischen der Wirtschaftsvormacht eingenistet hat. Das amerikanische Billionenbudget sollte groß genug sein, um beide Seiten „common ground“ finden zu lassen. Dieser Begriff ist immerhin noch erlaubt, nachdem die Tea Party die Vokabel „compromise“ zum konservativen Unwort erklärt hat. Wie „Steuererhöhung“.
Trotz der teuren Quittung, die ihr die Demoskopen ausstellen: Es steht nicht zu erwarten, dass der mutwillig verursachte Haushaltsnotstand die Tea Party entzaubert und ihren Spuk beendet. Denn für den Wahlerfolg der Rebellen spielen die national ermittelten Zustimmungsraten keine große Rolle. Und das haben sich auch jene Strategen des Parteiestablishments zuzuschreiben, die sich nun ungläubig die Augen reiben. Durch den schamlosen, parteipolitisch motivierten Neuzuschnitt von Wahlkreisen ist die Landkarte der Vereinigten Staaten in 435 immer abenteuerlichere Vielecke aufgeteilt worden, die jeweils eine möglichst homogene Wählerschaft einhegen. Das ist zwar alte Tradition in Amerika, hat im Zeitalter der totalen Datenerfassung aber eine neue Dimension erreicht. Wahrscheinlich sind schon mehr als neun von zehn Wahlkreisen so hingebogen worden, dass ihr jeweiliger Abgeordnetensitz auf lange Zeit entweder den Demokraten oder den Republikanern sicher ist.
Auch Obama braucht Mut zum Kompromiss
Die eigentliche Wahlentscheidung fällt deshalb in innerparteilichen Vorwahlen. In den meisten Staaten dürfen lediglich registrierte Parteianhänger den Kandidaten mitbestimmen – und nur die wenigsten interessieren sich dafür. So bestimmt eine kleine, leidenschaftlich ideologische Gruppe von Bürgern letztlich, wer den Bezirk in Washington vertritt. Dabei haben oft die Vertreter der reinen Lehre die Nase vorn, die ungenierter über Washington lästern können, weil sie noch nicht oft genug da waren, um sich selbst die Hände „schmutzig“ gemacht zu haben. Mehr als die Hälfte von Boehners Mannschaft ist 2010 oder 2012 erstmals gewählt worden.
Fürs Erste kann Obama genüsslich zusehen, wie sich im Angesicht ihrer Niederlage nun Tea-Party-Republikaner mit moderaten Republikanern, republikanische Abgeordnete mit republikanischen Senatoren streiten. Doch die Rückeroberung der parlamentarischen Mehrheit im nächsten Jahr bleibt für die Demokraten ein kühner Traum. Der Präsident wird nicht um Etat-Einschnitte herumkommen, die seinen Versprechungen zuwiderlaufen und dem linken Demokraten-Flügel missfallen. Schon die Debatten über Drohnen, die NSA-Spähprogramme oder Syrien haben Obama gelehrt, dass seine Partei nicht mehr geschlossen hinter ihm steht. Die im Finanznotstand demonstrierte Einigkeit der Demokraten ist ein Geschenk der Republikaner von begrenzter Haltbarkeit. Wenn Washington sich nicht länger zum Gespött der Welt machen will, braucht nicht nur Boehner, sondern auch Obama Mut zum Kompromiss.
Leave a Reply
You must be logged in to post a comment.