Der Zerfall des amerikanischen Judentums
In Nordamerika löst sich die jüdische Gemeinschaft zunehmend auf: Die Mehrheit heiratet Nichtjuden, die Religiosität schwindet. Nur die Orthodoxen halten sich. Sie sind kinderreich, aber arm. Von Hannes Stein
Es ist nicht leicht, im Europa des Jahres 2013 ein Jude zu sein. Der Antisemitismus – der verschämte wie der unverschämte – ist in die Mitte der Gesellschaft zurückgekehrt: Längst hört man nicht mehr nur von Extremisten, dass Israel ein Weltbrandstifter sei. Antisemitische Briefe an jüdische Gemeinden werden mit Doktortitel und der korrekten Anschrift des Absenders versehen. Verbot der koscheren Schlachtung in Polen; eine Resolution des Europarates gegen die Knabenbeschneidung; muslimische Jugendbanden in Frankreich und Deutschland, die Rabbiner verprügeln. Nein, die Zeiten sind nicht einfach.
Amerika hat unterdessen genau das konträre Problem: Hier ist es viel zu leicht, Jude zu sein. Das “Pew Research Center” – ein angesehenes Meinungsforschungsinstitut in Washington – hat Anfang Dezember Zahlen veröffentlicht, die nicht nur die jüdische Gemeinschaft in Nordamerika aufgeschreckt haben. Diese Zahlen zeigen, was mit Juden in einer Gesellschaft passiert, die längst alle Mauern eingerissen hat, mit denen sie sich früher gegen die als lästig empfundenen Außenseiter abgeschirmt hat: Passé sind die Zeiten, als ein Numerus Clausus die Söhne Israels von amerikanischen Eliteuniversitäten fernhalten sollte, und ein christliches Mädchen, das einen jüdischen Freund mit nach Hause bringt, wird nicht einmal mehr im tiefsten Mittleren Westen scheel angesehen.
Das Resultat? 58 Prozent der amerikanischen Juden gehen heute Mischehen mit Nichtjuden ein; ein Fünftel der amerikanischen Juden bekennt, dass sie sich durch keinerlei Religion mehr gebunden fühlen; die Geburtenrate liegt mit 1,9 Kindern pro Frau deutlich unter dem nationalen Durchschnitt. Bei vielen dieser Kinder muss man als unwahrscheinlich ansehen, dass sie jemals eine jüdische Erziehung genießen werden.
Die schrumpfenden Konservativen
Nirgendwo kann man das Drama des amerikanischen Judentums klarer studieren als anhand seiner konservativen Strömung. Das konservative Judentum war eine uramerikanische Institution, die allerdings in Deutschland ihren Ursprung hatte: Es hielt die Mitte zwischen der Orthodoxie hier und dem Reformjudentum dort. Die Orthodoxie nahm das jüdische Religionsgesetz (Speise- und Ehevorschriften, peinliche Befolgung des Sabbat) in seiner Gesamtheit an; das Reformjudentum tat jenes aus uralter Zeit überlieferte Religionsgesetz in großen Zügen als Äußerlichkeit ab.
Das konservative Judentum setzte weiterhin auf das Ritual, aber in gemäßigter Form – und war einst eine wichtige spirituelle Macht. Es unterhält immer noch eine eigene Universität, das ehrwürdige “Jewish Theological Seminary” in Manhattan; es hat intellektuelle Riesen wie Rabbi Abraham Joshua Heschel hervorgebracht, den jüdischen Weggefährten von Martin Luther King. Dieser Tage bricht das konservative Judentum in Amerika vor unseren Augen zusammen. 1971 bekannten sich noch 41 Prozent der jüdischen Amerikaner zu dieser Strömung, 2000 waren es nur noch 26 Prozent, heute sind es laut “Pew Research Center” gerade mal 18 Prozent, von denen die meisten älteren Jahrgängen angehören.
Edward Feinstein, ein führender konservativer Rabbi, nahm kürzlich kein Blatt vor den Mund, als er sagte: “Unser Haus brennt … Wir haben vielleicht noch zehn Jahre. In den nächsten zehn Jahren werden wir einen rapiden Kollaps von Synagogengemeinschaften und der Organisationen erleben, die sie unterstützen.” Wie sehr die Welt sich geändert hat, sieht man an zwei Trends.
Synagogen können gemietet werden
Erstens: Immer mehr jüdische Reformgemeinden gehen dazu über, ihre Gotteshäuser zu vermieten – und zwar an orthodoxe Juden. Sie selber bekommen ihre Synagogen nicht mehr voll. Zweitens: Früher war es üblich, dass jüdische Eltern ein Kind, das eine Mischehe einging, betrauerten, als wäre es gestorben. So etwas galt als Schande, die man vor der Öffentlichkeit versteckte. Heute sind konservative und Reformjuden dazu übergegangen, angeheiratete Nichtjuden ausdrücklich in ihren Gemeinden willkommen zu heißen – und zwar, ohne dass diese Leute vorher zum Judentum konvertieren müssten. Ein Zeichen der Toleranz? Nein, eine aus der Not geborene Verfallserscheinung.
Ein weiteres Zeichen des Verfalls: Viele amerikanische Juden können ihr Judentum nur noch äußerst vage definieren. Ein Beispiel dafür ist Gabriel Roth, ein Journalist für das Internetmagazin “Slate”. Er schrieb: “Ich schätze am Jude-Sein eine nichtsnobistische Form der Intellektualität, Mitleid mit den Zukurzgekommenen, psychoanalytische Einsichten, Komödien voller Reue und Räucherfisch.”
Diese Liste muss jeden Katholiken, Protestanten oder Muslim beleidigen, der auch über die Tugenden der Nächstenliebe, der Intellektualität, des Humors, der Feinfühligkeit verfügt (und vielleicht ebenfalls Räucherlachs auf Bagel liebt). Anders und gröber gesagt: Nichts an der Liste von Gabriel Roth ist spezifisch jüdisch. Er zählt hier die Sensibilitäten der gehobenen Mittelklasse auf.
Kein Woody Allen mehr
Die bittere Wahrheit ist also: Die nichtorthodoxen Strömungen des amerikanischen Judentums lösen sich im Mainstream der Vereinigten Staaten auf wie eine Kukident-Tablette im Wasser. Die einzigen, die sich hier trotz der Umarmung durch die Nichtjuden weiterhin behaupten können, sind die Orthodoxen. Sie bekommen weiterhin Kinder (im Durchschnitt 4,1 pro Paar), und sie können diesen Kindern jedes Jahr zu Pessach erzählen, was es bedeutet, Jude zu sein: dass man Sklave war in Ägyptenland, dass man von Gott höchstpersönlich aus der Knechtschaft befreit wurde und am Sinai aus Moses Hand das Gesetz empfangen hat – im Unterschied zu den anderen Völkern.
Was bedeutet all dies für die Zukunft? Dass die jüdische Gemeinschaft in Amerika künftig sehr viel kleiner sein wird. Und frommer. Und ärmer: Viele der orthodoxen Juden in Amerika leben von der Sozialhilfe. Die Juden vom Schlage einer Sarah Silverman, eines Woody Allen, eines Jerry Seinfeld – Komiker, Schauspieler, Intellektuelle, denen ihr Judentum ein Witz ist – gehören in Amerika einer aussterbenden Spezies an.
Ihre geistigen Enkel werden, wenn überhaupt irgendwo, dann in Tel Aviv auftreten und Hebräisch sprechen. Vielleicht leben heute 5,3 Millionen Juden in Amerika; vielleicht werden in einem Menschenalter noch zwei Millionen übrig sein. Das ist eine Tatsache. Auf ihre Art ist diese Tatsache ebenso besorgniserregend wie der zunehmende Judenhass in Europa siebzig Jahre nach Auschwitz.
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