Waffennarr, Patriot, Freiheitsprediger
10.02.2014
von Malte Lehming
Wie wurde Edward Snowden zum berühmtesten Whistleblower der Welt? Ein Schlüssel zum Verständnis ist der radikal-liberale Republikaner Ron Paul. In dessen Weltanschauung kulminieren eine Reihe uramerikanischer Traditionen.
Günter Grass war in der SS, Alice Schwarzer hat Steuern hinterzogen und Daniel Cohn-Bendit sich von Kindern ans Geschlecht fassen lassen. Wer das Lebenswerk dieser Personen würdigt, kommt um eine Erwähnung auch solcher Tatsachen kaum herum. Kein Mensch ist vollkommen. Helden ohne Makel gibt es allein in der Fantasie. Manchmal aber entpuppt sich das, was wie ein Makel aussieht, als Schlüssel zum Verständnis einer Ikone.
Über Edward Snowden, den amerikanischen Whistleblower, war lange Zeit wenig bekannt. Nun lichtet sich langsam der Nebel.
Der „Guardian“-Redakteur Luke Harding hat eine Biografie geschrieben („The Snowden Files“), in der Zeitschrift „The New Republic“ veröffentlichte der Historiker Sean Wilentz, beileibe kein Konservativer, seine Rechercheergebnisse, bereits im Dezember publizierte das Magazin „Rolling Stone“ ein langes Doppelporträt über Snowden und Glenn Greenwald, jenen Rechtsanwalt, Blogger und „Guardian“-Autor, der die NSA-Affäre ins Rollen gebracht hatte. Das Bild, das sich daraus ergibt, ist noch nicht vollständig. Für ein abschließendes Urteil ist es zu früh. Dennoch sind viele Informationen erhellend. Wer also war Snowden, bevor er 1,7 Millionen Dateien kopierte, die zum Teil streng geheim waren, und viele Praktiken der „National Security Agency“ (NSA) aufdeckte?
Der Junge wächst behütet an der Ostküste auf, leidet unter der Trennung seiner Eltern, bricht in der zehnten Klasse den Schulbesuch ab, verbringt viel Zeit vor dem Computer und im Internet. Im Dezember 2001 meldet er sich auf der Technologiewebseite „Ars Technica“ unter dem Pseudonym „TheTrueHOOHA“ an. Dort postet er acht Jahre lang regelmäßig über Gott und die Welt, außerdem eignet er sich umfangreiche Internet-Kenntnisse an.
Politisch steht Snowden den Republikanern nahe
Politisch steht Snowden dem libertären Zweig der Republikaner nahe. Nach einer London-Reise empört er sich über die große Zahl von Muslimen in der Stadt („es war schrecklich“), er brüstet sich mit seiner Waffe, einer Walther P22 („Ich liebe sie bis zum Tode“), im Jahre 2003 meldet er sich freiwillig zur US-Armee, um in den Irakkrieg ziehen zu können. Bereits nach vier Monaten wird er ausgemustert, weil er sich bei einem Unfall beide Beine gebrochen hatte. Außerdem ist er kurzsichtig und kleinfüßig.
Zwei Jahre später heuert der glühende Patriot beim US-Geheimdienst an, erst bei der CIA, dann bei der NSA. Er arbeitet in Genf, Japan und auf Hawaii. Amerika solle die Rolle eines Weltpolizisten übernehmen, fordert er im Gespräch während einer längeren Autofahrt. Als im Januar 2009 die „New York Times“ über einen Geheimplan Israels zum Angriff auf iranische Atomanlagen berichtet, ist Snowden außer sich vor Zorn – sowohl über die Zeitung als auch über den Whistleblower. „Wer sind die anonymen Quellen in dieser Geschichte? Man sollte ihnen in die Eier schießen!“ Aus gutem Grund würden solche Dinge geheim gehalten, „ damit der Iran nicht weiß, was wir vorhaben“.
Patriotismus, Freiheitsliebe, Individualismus, Misstrauen gegenüber dem Staat: Aus diesen Impulsen erklärt sich Snowdens kühl kalkulierter Geheimnisverrat über die NSA-Praktiken. Es sind sehr amerikanische Motivationsstränge. Kein Zufall, dass es chinesische, russische, britische oder deutsche Snowdens nicht gibt.
Alice Schwarzers Wirken ist auch ohne ihren Steuerbetrug verständlich. Bei Snowden indes fügt sich eins ins andere. Ist er ein Linker, ein Rechter? Darüber lässt sich lange streiten. Vor allem aber ist Snowden eines – ein typischer Amerikaner. Sein Land hat, trotz der vielen durch ihn verursachten Probleme, durchaus Grund, stolz auf ihn zu sein.
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