Edited by Gillian Palmer
George F. Kennan entpuppt sich in seinen Tagebüchern als Rassist und Antisemit. Seine Landsleute verachtete der US-Diplomat. Muss die Geschichte des Kalten Krieges neu geschrieben werden?
Nie hat ein Telegramm die Weltgeschichte so nachhaltig geprägt wie jene 5500 Worte lange Kabelnachricht, die anno 1947 ein junger amerikanischer Diplomat namens George Frost Kennan aus Moskau an seine Vorgesetzten schickte. Noch heute staunt man, wenn man dieses Dokument liest: Wie hellsichtig dieser Kennan war!
Es ging um die kniffelige Frage, wie man künftig mit der Sowjetunion umgehen solle, die damals ja noch beinahe ein Verbündeter der Amerikaner war. George F. Kennan hegte keine Zweifel, dass die Sowjetunion eine aggressive Macht war (er nannte sie “neurotisch”), aber das bedeutete nicht, dass man gleich in den nächsten Krieg ziehen musste.
Die Macht der Russen ließ sich eindämmen – in erster Linie durch Wirtschaftshilfe für Westeuropa, zweitens durch die Unterstützung linker antikommunistischer Parteien und Gewerkschaften (etwa der Sozialdemokraten) und erst an dritter Stelle (und nur im Notfall) auch militärisch.
Der “Marshallplan”, der nach 1945 der Bundesrepublik Deutschland zugute kam, hätte mit demselben Recht auch “Kennan-Plan” heißen können. Die Idee jedenfalls stammte von ihm: Man greift dem Feind von gerade eben wirtschaftlich unter die Arme und gewinnt damit einen wertvollen Verbündeten.
Kennan hat ziemlich häufig recht behalten
Kennan war ein sehr differenzierter Antikommunist. Joseph McCarthy, den Senator aus Wisconsin, der glaubte, das Außenministerium und die Armee seien in Amerika von Kommunisten unterwandert, hielt er für einen ausgemachten Idioten. Den Vietnamkrieg hat er von Anfang an abgelehnt. Den Koreakrieg dagegen hielt George F. Kennan für richtig: Südkorea musste unterstützt, der Aggression aus dem Norden musste widerstanden werden, damit die stalinistische Sowjetunion und das maoistische China begriffen, dass die Amerikaner sich nicht zurückdrängen ließen.
Mit anderen Worten: Kennan war ein Mann, der ziemlich oft in seinem Leben recht hatte und mit einem Telegramm von epischer Länge eine Politik begründen half, die Westeuropa vor einem schlimmen Schicksal bewahrte.
Doch nun sind in Amerika seine Tagebücher erschienen. Und sie zeigen uns, was Biografen schon lange gemunkelt haben: Dieser kluge Diplomat hatte ein hässliches zweites Gesicht.
Kennan wurde uralt, er lebte von 1904 bis 2005. Entsprechend lang sind seine Tagebücher – mehr als 700 Seiten.
Er schwärmte von Rassenhygiene
Der erste Schock erwartet uns schon bei einem Eintrag aus der Zeit, als Kennan noch ein junger Student in Princeton war: Ein Kommilitone habe ihn halb von seinem Glauben überzeugt, die niederen Menschenarten gehörten ausgelöscht. “Wir haben eine Gruppe von mehr oder weniger minderwertigen Rassen … Auch mit noch so viel Erziehung und Disziplin können die Bedingungen nicht geändert werden, wenn man den Unbegabten erlaubt, sich ungehemmt fortzupflanzen und ihren Nachwuchs zu pflegen.”
Nun kann man sagen: Das sind die pubertätspickeligen Ideen eines Jungen, der später vielleicht dazugelernt hat. Aber George F. Kennan schwelgte noch als Achtzigjähriger von eugenischen Maßnahmen.
Wer sind nun die minderwertigen Rassen, deren Ausbreitung Kennan mit solchem Missvergnügen sah? Die Juden selbstverständlich. Aber man findet in seinen Tagebüchern auch abfällige Bemerkungen über Italiener (“ignorant”), Iraker (“schmutzig”), Litauer (“Narren”), Georgier (“faul”) und Schwarze.
Im Jahre 1978 fragte er sich in seinen Tagebüchern, ob es wohl das Schicksal der Menschheit sei, zu einer “polyglotten Masse” zu verschmelzen, bis am Ende nur noch Juden, Chinesen und “Neger” übrig blieben und den Rest dominierten – “die Chinesen durch ihre Kombination von Intelligenz, Ruchlosigkeit und ameisenhaftem Fleiß; die Juden durch ihren schieren Willen, als Kultur zu überleben; und die Neger durch ihre unausrottbare Bitterkeit und ihren Hass gegen die Weißen?”
Frauen und Schwule waren für ihn minderwertig
Frauen hielt Kennan selbstverständlich ebenfalls für minderwertig, und in der Tatsache, dass Schwule sich in der amerikanischen Öffentlichkeit immer weniger schämten, erblickte er ein Zeichen westlicher Dekadenz.
Mehr noch als Juden, Chinesen und Schwarze verachtete George F. Kennan nämlich seine Landsleute: “Diese verdammten amerikanischen Touristen”, dachte er im Stillen, wenn er in Europa unterwegs war, “mit ihren widerlichen Klamotten, ihren Jeans und Turnschuhen: Was haben sie hier im Züricher Flughafen verloren?”
Der Diplomat war in seinem tiefsten Inneren davon überzeugt, dass Amerika zum Untergang verurteilt sei: “Mit aller Anstrengung, die geboten ist, um übersteigerten Pessimismus und hochdramatische Formulierungen zu vermeiden – ich sehe keinen Ausweg für die USA: weder in ihren außenpolitischen Beziehungen noch in der inneren Entwicklung des Lebens.”
Diese Notiz stammt aus dem Jahr 1978. Danach träumte der amerikanische Antiamerikaner, der Fernseher und Autos hasste, immer häufiger davon, sich auf eine Farm in der Einöde zurückzuziehen: sei es in Vermont, New Hampshire oder Alaska, in Norwegen oder in der Antarktis. Natürlich tat er es nie.
Zu Optimismus ist der Reaktionär nicht fähig
Dass jemand Wechsel fälscht, ist noch kein Beweis, dass er nicht Geige spielen kann, hat Oscar Wilde einmal angemerkt. Es widerlegt die außenpolitischen Überlegungen des George F. Kennan also keineswegs, dass er sich, wenn er allein vor seinem Tagebuch saß, als Reaktionär von der besonders langweiligen Sorte offenbarte.
Trotzdem sollte man im Hinblick auf das, was wir jetzt von ihm wissen, noch einmal über seinen viel gerühmten außenpolitischen Realismus nachdenken. Er hatte mit seiner Politik der “Eindämmung” nämlich nur insofern recht, als er verstand, dass es notwendig war, den Kommunismus ohne Krieg zu stoppen.
Was Kennan sich dagegen überhaupt nicht vorstellen konnte: dass Völker, die er für minderwertig hielt, hinter dem Eisernen Vorhang munter Bürgerrechtskomitees, fliegende Universitäten, Gewerkschaften, kurz: eine Zivilgesellschaft organisieren würden. Und selbstverständlich hatte er keinen blassen Schimmer von der segensreich-revolutionären Wirkung der Rockmusik (Václav Havel war ein lebenslanger Fan der Band “Velvet Underground”).
Heute würde George F. Kennan wahrscheinlich nicht zu jenen gehören, die freundliche Worte für Wladimir Putin finden. Aber die Ukrainer würde er unterschätzen. Der Reaktionär sieht nämlich immer nur auf einem Auge gut – dem linken, das ihn rundherum nur Niedertracht und Niedergang erblicken lässt. Auf dem rechten, dem optimistischen Auge, ist er blind.
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