Schrecklich höflich, diese Amerikaner!
In Berlin wird unsere Kolumnistin selten freundlich empfangen. Desto mehr freut sie sich während ihres USA-Aufenthaltes darüber, dass die Höflichkeitsformeln dort noch nicht ausgestorben sind. Von Hildegard Stausberg
Es gibt Dinge, die mich in Deutschland seit Längerem schon nachhaltig stören. Dazu gehört vor allem der Verlust von Umgangsformen, die früher einfach normal waren. Wenn man zum Beispiel jemanden unbeabsichtigt anrempelte, was immer mal vorkommen kann, sagte man entweder “Verzeihung” oder “entschuldigen Sie bitte”, vielleicht sogar “es tut mir leid”.
Heute wird man am Berliner Hauptbahnhof fast umgestoßen – aber kein Sterbenswörtchen des Bedauerns kommt mehr über die Lippen des Verursachers: Der eilt davon, ohne nach rechts oder links zu blicken – und schon gar nicht mehr blickt er zurück. Und dann erst das freundliche “Guten Morgen”. In der Hauptstadt, so scheint mir, ist es fast völlig verschwunden – oder zumindest vom akuten Aussterben bedroht.
In der Bäckerei an “meiner” S-Bahn-Station im Herzen der Stadt ernte ich jedenfalls mit diesem Gruß mittlerweile fast ungläubiges Staunen – und oute mich für manche wohl als echter Dinosaurier. Welch angenehme Überraschungen brachte da meine Osterzeit in Washington und Philadelphia.
“Wie geht es Ihnen denn heute?”
In den – angeblich – doch so ungehobelten Vereinigten Staaten haben sich nämlich allgemeine Umgangsformen erhalten, von denen wir in Deutschland heute nur noch träumen können. Da ist erst mal das freundliche “how are you doing today?” – “wie geht es Ihnen denn heute?”, was, auch das ist erwähnenswert, meist nicht muffig vorgetragen wird, sondern durchaus mit einem aufmerksamen Lächeln.
Und dann erst das Verhalten der Leute in einer Schlange – einfach nicht zu glauben: Da wird nicht geschubst oder gedrängelt, und da mogelt sich auch keiner an den anderen vorbei nach vorne. Nein, da wartet man einfach, bis man dran ist – fair, ruhig und korrekt.
Auch die seit den Angriffen auf das World Trade Center am 11. September 2001 mittlerweile fast überall stattfindenden Kontrollen von Handtaschen oder Tüten werden schnell und unauffällig vollzogen.
Das Zusammenleben in einer Gesellschaft
Es ist eigentlich sogar überraschend, wie reibungslos doch die Organisationsabläufe in öffentlichen Gebäuden wie Museen, Einkaufspassagen oder Bahnhöfen sind. Und das hat sicher auch damit zu tun, dass es immer noch ein fein gewebtes Netzwerk gibt aus eingeübten Höflichkeitsformeln und langen Traditionslinien gegenseitigen Respekts.
Bedauerlicherweise gibt es gerade in Europa immer mehr Leute, die dies alles abtun als hohl und oberflächlich. Ist es das wirklich? Sind allgemein verbindliche und einstudierte Umgangsformen nicht einfach nur Korsettstangen für ein möglichst reibungsloses Zusammenleben einer Gesellschaft aus Individuen? Ich jedenfalls wäre froh, wenn wir einiges davon bei uns wiederbeleben könnten.
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