Das Blau des wolkenlosen Himmels am 11. September 2001 findet sich in der gerade eröffneten Gedenkstätte wieder. Das eindringliche Museum erinnert auch daran, wie stark der Anschlag die amerikanische Psyche getroffen hat. Die USA erlebten Schock und Trauer, dann Aggression, Polarisierung und Rechtsbeugung. Erst jetzt beginnt eine Phase der Besinnung.
Wer den 11. September 2001 in New York erlebt hat, erinnert sich an den Himmel, diesen spätsommerlichen Ostküstenhimmel, wolken- und dunstfrei, kristallklar. Der Himmel war blau, als die Terroristen angeflogen kamen, er war blau, als es Asche regnete über den Straßen Manhattans. Der Himmel war Symbol für die Sorglosigkeit der USA in den Jahren nach dem Kalten Krieg, für die Illusion, die Geschichte sei nunmehr zu Ende und die Amerikaner hätten nichts mehr zu fürchten.
Nun wird in New York die Gedenkstätte eröffnet für die Terroranschläge, ein solch eindringliches Museum, dass erste Besucher sich fühlen, als hätte man ihnen in den Bauch geschlagen. Das einzige Kunstwerk dort ist eine blaue Wand aus 2983 Papierbögen, die der Künstler Spencer Finch gestrichen hat, jeden in einem anderen Blauton. 2983 Menschen sind bei den Anschlägen auf das World Trade Center gestorben. Finch möchte an sie erinnern, aber eben auch an diesen Himmel, das trügerische, fast hämische Blau.
Terror aus heiterem Himmel: Amerika hat am 11. September 2001 erfahren, dass es nicht in sicherer Entfernung liegt zum Rest der Welt, dass sich die Globalisierung – und al-Qaida als eine ihrer pathologischen Folgen – nicht ewig auf Abstand halten lässt. Die Amerikaner haben seitdem gelernt, wie verwundbar sie sind, nicht nur durch al-Qaida, sondern auch durch die Naturgewalt des Hurrikan Katrina, dem die mächtigste Regierung der Erde nichts entgegenzusetzen hatte, und einer Finanz- und Wirtschaftskrise, wie sie seit Jahrzehnten niemand erlebt hatte.
Amerika schaut nach innen – wie lange noch?
Die USA haben seit 2001 verschiedene Phasen durchlebt. Auf Schock und Trauer folgten Aggression, Polarisierung und Rechtsbeugung; dann Erschöpfung, Rückzug und Isolation. Erst jetzt, nach einem Jahrzehnt dauernder Krise, beginnt eine Phase der Besinnung. Erst jetzt kommen die USA zum Beispiel dazu, sich wieder einmal selbst genauer zu betrachten und über die wachsende Ungleichheit in ihrer Gesellschaft zu debattieren.
Die dauerhafteste Folge des 11. September aber ist sein Einfluss auf die amerikanische Psyche. Der Sicherheitsapparat lebt in ständiger Paranoia. Je weniger Gefahren er sieht, desto bedrohter fühlt er sich und desto mehr forscht er alle Welt aus. Die NSA-Affäre ist die Konsequenz, und die ambivalente Reaktion von Volk und Präsident zeigt, wie sehr das Syndrom des blauen Septemberhimmels das Land erfasst.
Gerade der Vergleich zu den Europäern offenbart, wer 2001 Opfer war und wer nur Zeuge. Etliche Amerikaner dürften bis heute an Osama bin Laden denken, wenn sie in ein Flugzeug steigen, und viele nehmen gerne mehr Überwachung hin, wenn sie bloß nie mehr im Leben einen 11. September erleben müssen.
Amerika sucht jetzt nach einem neuen Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Freiheit, nach einem neuen Verhältnis zum Rest der Welt. Nach den kriegerischen Jahren des George W. Bush tut Barack Obama jetzt genau das Gegenteil, er tut das, wofür ihn das Volk gewählt hat: Er beendet Kriege und meidet jeden neuen. Er weiß, dass sein Land weder Geld, Kraft noch Willen hat für neue Abenteuer.
Obama ist Präsident, weil er Sicherheit verspricht. Er ist der Präsident der Risikominimierung, er möchte seine Bürger schützen, sowohl im Alltag, wenn er ihnen eine Krankenversicherung anbietet, als auch in Notlagen wie Hurrikan Sandy, schließlich im Verhältnis zum Ausland, wenn er seine Soldaten von neuen Brandherden fernhält und es vermeidet, Terroristen neue Angriffsflächen zu bieten.
Amerika hat die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit noch nicht gefunden
Diese Phase muss freilich nicht ewig dauern. Viele Amerikaner glauben zwar, dass ihnen Interventionen nur Niederlagen eingebracht haben. Aber es gefällt ihnen auch nicht, dass Amerika als schwach und unbedeutend gilt und Autokraten wie Russlands Präsident Wladimir Putin tun, was sie wollen. Schon im Vorwahlkampf um die Nachfolge Obamas werden sich die Republikaner mit Vorschlägen überbieten, wie man wieder Stärke zeigen könnte, was auch immer das ist.
Amerika hat die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit, zwischen Einmischung und Rückzug immer noch nicht gefunden. Die USA mögen eine Zeit der Isolation brauchen, um zu sich zu kommen, aber diese sollte nicht in Desinteresse am Rest der Welt umschlagen.
Die Gedenkstätte in Manhattan widmet dem Kontext der Terroranschläge, der Entstehung al-Qaidas und dem Leiden zahlloser Muslime nur wenig Raum. Und über Außenpolitik wird in Washington bis heute meist nur mit Klischees wie Stärke und Schwäche debattiert. Die Welt braucht die USA, und die Amerikaner müssen sich an diese Lehre des 11. September erinnern: Ein blauer Himmel über Amerika macht noch lange keinen weltweiten Sommer.
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