Die Illusion des «humanen» Tötens
Im Verhältnis zwischen Europa und den USA sorgen seit Jahren die immergleichen Reibungspunkte für Irritationen. Konträre Auffassungen über den Einsatz militärischer Gewalt oder die extraterritoriale Anwendung amerikanischen Rechts sind ständige Quellen transatlantischer Spannungen. Kaum etwas erzeugt jedoch auf der emotionalen Ebene ein derartiges Gefühl des gegenseitigen Fremdseins wie das Thema Todesstrafe. Dass diese noch immer Teil der amerikanischen Justiz ist, stösst in Europa auf Unverständnis, ja Abscheu. Dabei fällt auf, dass die europäische Kritik an den USA lauter ertönt als gegenüber Ländern wie China und Iran, wo Hinrichtungen viel häufiger sind. Dass zweierlei Mass zur Anwendung kommt, lässt sich aber mit innereuropäischen Befindlichkeiten leicht erklären. Auf dem alten Kontinent ist man zu Recht stolz darauf, die Todesstrafe flächendeckend (einzige Ausnahme ist Weissrussland) ausgemerzt zu haben, und hält sie für unvereinbar mit Gepflogenheiten zivilisierter Staaten. Dass sich hochentwickelte, demokratische Rechtsstaaten wie die USA und Japan dieser Sicht verweigern, schmerzt wie ein Stachel im eigenen Fleisch. Es erinnert daran, dass jenseits der eigenen Grenzen keineswegs unumstritten ist, was man gern als Normen einer zivilisierten Welt deklariert.
Ein Paragraf mit Folgen
Sich selbstgerecht zum leuchtenden Vorbild zu erklären und anderen Barbarei vorzuwerfen, hilft in dieser Lage wenig. Als unerwartet wirksam entpuppt sich dafür etwas anderes. 2011 erliess die EU Exportbeschränkungen für zwei Barbiturate, die bei Hinrichtungen mittels Giftspritze zum Einsatz kommen. Da diese Narkosemittel in den USA nicht hergestellt werden, sind die dortigen Behörden nun mit Versorgungsengpässen konfrontiert. Mehrere Teilstaaten sehen sich gezwungen, über ihre Hinrichtungsmethoden nachzudenken oder neue Giftcocktails zu testen. Die lange Agonie zweier Verurteilter, die mit unerprobten Substanzen exekutiert wurden, hat für Aufsehen gesorgt und die Debatte über die Todesstrafe neu angeheizt. Mehrere Stimmen gaben zu bedenken, solche Vorfälle verletzten die amerikanische Verfassung. Diese verbietet «grausame und ungewöhnliche» Strafen.
Es wäre aber falsch zu glauben, dass der entscheidende Anstoss für die Debatte von aussen kam. In Wirklichkeit ist der Rückhalt für die Todesstrafe in den USA seit Jahren am Schwinden. Mit 55 bis 60 Prozent stellen die Anhänger zwar noch immer eine Mehrheit, aber ihr Anteil liegt auf dem tiefsten Stand seit 40 Jahren. Der Wandel schlägt sich auch im Justizvollzug nieder. Mitte der neunziger Jahre wurde die Todesstrafe noch viermal häufiger verhängt; seither ist auch die Zahl der Hinrichtungen stark gesunken. Mit ein Grund für diese Entwicklung ist, dass mehrere Teilstaaten als Alternative zur Todesstrafe die Möglichkeit lebenslänglicher Strafen ohne Recht auf Bewährung eingeführt haben.
Keine abschreckende Wirkung
Von grundlegenderer Bedeutung ist, dass heute, vier Jahrzehnte nach Wiedereinführung der Todesstrafe, die Gegenargumente klarer denn je vorliegen: Eine abschreckende Wirkung von Hinrichtungen lässt sich nicht nachweisen; das Risiko von Todesurteilen gegen Unschuldige bleibt angesichts der Mängel im Rechtswesen erheblich; Studien deuten auf eine Rolle ethnischer Vorurteile bei der Verhängung der Höchststrafe hin; die Kosten für die Administration der Todestrakte sind exorbitant. Eine Videoreportage der NZZ über die Verhältnisse in Texas beleuchtet darüber hinaus den Aspekt der Angehörigen: Ein Todesurteil bedeutet für die Familie des Verurteilten eine lange Leidenszeit, umgekehrt ist längst nicht allen Hinterbliebenen des Opfers geholfen, wenn der Staat in ihrem Namen tödliche Rache für das Verbrechen übt.
Nach den «verpfuschten» Hinrichtungen in Ohio und Oklahoma rückt nun ein weiteres Argument in den Vordergrund: Es ist eine Illusion zu erwarten, dass man je eine akzeptable, humane Form des staatlichen Tötens finden wird. Die Giftspritze, die sich anstelle des elektrischen Stuhls als vermeintlich «saubere» Lösung durchsetzte, kann sogar grausamere Folgen als archaischere Methoden haben. Wohin die Debatte in den USA nun führt, ist offen. Der Trend zeigt aber in die richtige Richtung. 18 der 50 Staaten haben die Todesstrafe abgeschafft, 6 allein seit 2007. Hinrichtungen sind heute primär ein Phänomen in einer Handvoll von Südstaaten, während sich der Nordosten davon verabschiedet hat. Insofern besteht bei der Todesstrafe nicht nur eine Kluft zwischen Europa und den USA, sondern ebenso innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Die historische Erfahrung zeigt, dass solche Gegensätze nicht über Nacht verschwinden. In der Schweiz dauerte es vom Moment, als die ersten Kantone die Todesstrafe abschafften, noch über 70 Jahre, bis 1940 das letzte Mal ein Fallbeil niederging.
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