The World’s Weary Policeman

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Demütigung für die USA im Irak

Der ermattete Weltpolizist

Mit ihrem blitzartigen Vorstoss fast vor die Tore Bagdads haben die schwarzgewandeten Kämpfer der Terrorgruppe Isis eindrücklich bewiesen, wie weit der Irak noch immer von Stabilität entfernt ist. Der einst mit amerikanischer Hilfe an die Macht gelangte Ministerpräsident Maliki mag nach seinem Wahlsieg Ende April geglaubt haben, seine Herrschaft sei nun erfolgreich zementiert. Doch in Wirklichkeit reicht Malikis Autorität nicht über die schiitischen Gebiete hinaus. Der Kollaps der staatlichen Ordnung im sunnitischen Norden unter dem Ansturm des Isis erinnert an die handstreichartige Eroberung Nordmalis durch islamistische Rebellen vor anderthalb Jahren. Als dort die Hauptstadt zu fallen drohte, eilte aus der Ferne ein Gendarm herbei – Frankreich – und setzte dem Spuk ein rasches Ende. Wer diesmal am ehesten die Rolle des Weltpolizisten übernehmen könnte, liegt auf der Hand, doch der Sheriff Amerika bleibt in Deckung. Natürlich hat er dafür seine guten Gründe: Die Hauptstadt Bagdad ist nicht akut bedroht, mit Luftangriffen allein lassen sich die Jihadisten kaum zurückwerfen, und es fehlt an Vertrauen, dass Maliki das Nötige für eine politische Einbindung der Sunniten leisten könnte. Vor allem aber widerstrebt es den Amerikanern zutiefst, sich erneut in den irakischen Treibsand vorzuwagen.

Grenzen werden relativ

Nachvollziehbare Argumente hatte es auch gegeben, als Präsident Obama im vergangenen Jahr seine schon beschlossene Militäraktion in Syrien abblies, als er in der Krim-Krise den Kremlchef Putin mit Samthandschuhen anfasste und unlängst den vollständigen Abzug aus Afghanistan bis Ende 2016 ankündigte.

Doch das Gesamtbild, das sich daraus ergibt, ist eines von aussenpolitischer Schwäche. Im Irak kommt für die Supermacht eine eklatante Demütigung hinzu: Die vom Isis überrannten Gebiete waren von den USA einst mit enormem Blutzoll unter Kontrolle gebracht worden; bis 2009 hatten die Amerikaner den Islamischen Staat im Irak, die Vorgängerorganisation des Isis, weitgehend ausgeschaltet. Nun zeigt sich, dass diese Anstrengungen ebenso vergeblich waren wie der mit Milliarden von Dollars betriebene Aufbau irakischer Sicherheitskräfte, die sich im entscheidenden Moment einfach aus dem Staub machten. Als Obama beim Abzug der letzten amerikanischen Truppen Ende 2011 behauptete, der Irak sei nun stabil und könne auf eigenen Beinen stehen, liess er sich offensichtlich von Wunschdenken leiten.

Sofern die sunnitischen Extremisten ihren «Gottesstaat» auf Dauer etablieren können, entsteht nicht nur ein bedrohliches Refugium für Terroristen. Es wäre auch das Ende der seit fast hundert Jahren geltenden territorialen Ordnung in der Region. Faktisch ist der Irak bereits jetzt in drei Teile zerfallen, und das IsisGebiet überschneidet die alte Staatsgrenze zwischen dem Irak und Syrien. Nicht dass die einst von Frankreich und Grossbritannien gezogenen Linien ideal wären, aber die Amerikaner haben sich bisher stets als Garanten der von den Kolonialmächten hinterlassenen territorialen Aufteilung verstanden. Im

Golfkrieg von 1991 stellten sie die Unabhängigkeit Kuwaits wieder her, und als Besetzungsmacht im Irak beharrten sie selbst auf dem Höhepunkt des

Bürgerkriegs auf der Einheit dieses Vielvölkerstaates. Dies geschah aus der Einsicht, dass das Ringen um eine territoriale Neuordnung nicht nur zwangsläufig von blutigen Wirren begleitet wäre, sondern auch anderswo Gelüste nach Grenzverschiebungen wecken würde. In Europa nimmt man die Stabilität des weltweiten Systems von Staatsgrenzen als Selbstverständlichkeit hin. Doch sie beruhte in den letzten Jahrzehnten primär auf dem Willen der USA, die geltende Ordnung zu schützen. Vor 70 Jahren gelobte Präsident Roosevelt, «künftigen Kriegen ins Genick zu treten», bevor sie eskalieren könnten. Dieser Willen hat in Washington spürbar nachgelassen.

Vor diesem Hintergrund wirkt die Annexion der Krim durch Russland wie ein Fanal. Die mutlosen Sanktionen des Westens waren geradezu eine Einladung an Moskau, das üble Spiel weiterzutreiben. Erwartungsgemäss blieb es nicht bei der Krim; mittlerweile lässt Russland Panzer in die Ostukraine rollen und hält die dortige Sezession mit modernsten Waffen am Leben. So werden Grenzen, die einst unverrückbar schienen, plötzlich relativ. Dies hat Signalcharakter weit über die Region hinaus. Der langjährige saudische Geheimdienstchef Prinz Turki vergleicht Putin mit einem Wolf, der ungehindert Schafe reissen kann, ohne dass ein Hirt einschreitet.

Die amerikanische Schwäche bleibt aber auch China nicht verborgen. Immer unverfrorener macht es seine überrissenen Ansprüche im Südchinesischen Meer geltend, neuerdings legt es gar künstliche Inseln an, um vorgelagerte Stützpunkte zu gewinnen und daraus territoriale Ansprüche abzuleiten. Sein

Expansionswille ist gekoppelt an die Absicht, Amerika als Hegemonialmacht in Ostasien zu verdrängen. Washington hat dies zwar erkannt und frischt seine Bündnisse mit Chinas beunruhigten Nachbarn auf. Aber wie weit würde Obama bei einer ernsten Machtprobe wirklich gehen? Schon jetzt ist schwer vorstellbar, dass das amerikanische Volk geneigt wäre, Japan in einem Krieg um ein paar Felsen wie die Senkaku-Inseln beizustehen. Dabei lässt sich das Problem laut dem amerikanischen Publizisten Robert Kagan nicht einfach auf Kriegsmüdigkeit reduzieren. Kagan diagnostiziert bei seinen Landsleuten vielmehr einen grundlegenden Wandel, was die Bereitschaft zur Übernahme globaler Verantwortung betrifft.

Der missachtete Rat des Gärtners

Obama hat daher das Heimpublikum hinter sich, wenn er nun betont, die Iraker müssten ihren Konflikt selber lösen. Aber Aussenpolitik ist mehr als nur das kurzfristige Reagieren auf akute Krisen. Der frühere Aussenminister Dean Acheson verglich sein Metier einst mit dem Gärtnern – Erfolge erzielt man dort nicht über Nacht; nötig sind vielmehr Geduld und sorgfältige Pflege. In der IrakPolitik rächt sich nun, dass die USA nach ihrem Abzug dem Zweistromland kaum noch Beachtung schenkten und nicht ihr diplomatisches Gewicht einsetzten, um Maliki von seinem sunnitenfeindlichen Kurs abzubringen. Auch wäre es wohl klüger gewesen, in Syrien die gemässigten Rebellen zu stärken, bevor sich dort die Terrorguerilla des Isis ausbreiten konnte. Einen Preis für hohe Gartenkunst wird aber auch Maliki nicht holen. Vor drei Jahren noch wies er dem amerikanischen Militär die Tür; nun fleht er Washington um Beistand an. Er macht eine Erfahrung, die sich anderswo wiederholen könnte: So unheimlich der Sheriff Amerika manchen erscheint – richtig unheimlich wird es erst, wenn dieser Weltpolizist gar nicht mehr auftaucht.

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