Zehntausende Minderjährige gelangen ohne Eltern oder Verwandte illegal in die USA. Washington reagiert hilflos.
Dies ist eine Invasion”, klagt die Mittdreißigerin im südkalifornischen Murrieta, anderthalb Autostunden entfernt von der Grenze zu Mexiko. “Warum ist die Nationalgarde nicht draußen, um sie zu stoppen?” Sie, das sind illegale Einwanderer, unter ihnen neuerdings viele Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern oder Verwandten in das Land gelangt sind, das immer noch für Hoffnung steht. Doch rund 200 Demonstranten in Murrieta zwangen dieser Tage Busse zur Umkehr, die 140 Grenzgänger bis zum Abschluss ihrer Abschiebungsverfahren in einer Grenzstation unterbringen wollten. Sie katapultierten den 100.000-Seelen-Ort zwischen heißen Quellen und Pferderennen in die nationalen und zum Teil internationalen Fernsehnachrichten.
Ähnliche Bilder gibt es aus den anderen Bundesstaaten entlang der Grenze zu Mexiko: In Tucson / Arizona wurde das College Place, ein Appartment-Hotel für Studenten, in ein Übergangslager umfunktioniert. 300 Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern oder Verwandte über die Grenze kamen, sind darin untergebracht. “Es geht um unser Geld, das bringt mich einigermaßen auf”, schimpft ein bärtiger Mann mit Cowboyhut in die Fernsehkameras. “Wir müssen uns erstmal um unsere Leute kommen.”
Mit über 70.000 minderjährigen Grenzgängern ohne Eltern und ohne Einreisedokumente rechnen die US-Behörden für dieses Jahr. Das ist nahezu eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr und fast eine Vervierfachung im Vergleich zu 2011. Die Kinder kommen zunehmend aus Honduras, El Savador und Guatemala, während der Anteil der Illegalen aus Mexiko weitgehend stabil geblieben ist. Mexikanische Kinder werden, wenn sie in Grenznähe aufgegriffen werden, in der Regel nach einem Gespräch mit einem Grenzbeamten sofort abgeschoben. Nur wenn sie glaubhaft machen können, dass ihnen in der Heimat Verfolgung droht oder sie zu Opfern von Menschenhändlern werden könnten, bleiben sie zunächst in den USA. Bei Minderjährigen aus mittelamerikanischen Ländern werden hingegen bislang Verfahren eingeleitet zur Ermittlung der Adressen von Angehörigen in den USA, zu denen sie geschickt werden können. Lassen sich weder Verwandte noch die Heimatadresse feststellen, kommen Kinder auch dauerhaft in Pflegefamilien. Die Regeln dieses Verfahrens setzen der Homeland Security Act aus dem Jahr 2002 und ein Gesetz zum Schutz der Opfer von Menschenschmugglern aus dem Jahr 2008.
Bandengewalt und Drogenkriminalität werden als Hauptgründe für die herzzerreißende Entscheidung von Eltern genannt, ihre Kinder auf die gefährliche, mitunter tödliche Reise schicken – oft ohne die Aussicht auf ein Wiedersehen. Jedes Jahr sterben rund 460 Grenzgänger, mehr als einer pro Tag. Sie ertrinken im Rio Grande oder anderen Flüssen und Kanälen, sie verdursten in den Wüsten von New Mexiko oder Arizona und sie verunglücken auf der Flucht vor Nationalgardisten in hoffnungslos überfüllten Schrottautos, mit denen sie von Schleppern auf der US-Seite abgeholt werden. Der Anteil der Minderjährige unter diesen Todesopfern ist nicht ausgewiesen. In jedem Fall boomt das Geschäft der Menschenschmuggler.
Die “Grenz-Krise”, wie die Masseneinwanderung genannt wird, entlarvt die Hilflosigkeit von Republikanern wie Demokraten. “Der Grund für das alles ist, dass die Grenze nicht sicher ist”, sagt der texanische Gouverneur Rick Perry, der sich möglicherweise 2016 erneut für die republikanische Präsidentschaftskandidatur bewerben wird. Gespräche in Washington zu einer überparteilichen Reform des Einwanderungsrechts sind an der republikanischen Angst vor der Tea Party gescheitert. Barack Obama kündigte darum vorige Woche die Ausschöpfung seiner präsidentiellen Befugnisse an, um die Blockade aufzubrechen. Aber die Executive Orders geben dem Präsidenten nur begrenzte Möglichkeiten in die Hand, angefangen bei der Beschleunigung von Abschiebungen auch von nicht-mexikanischen Illegalen. Da will das Weiße Haus nun tätig werden, um die nicht nur in Murrieta brodelnde Volksseele zu besänftigen.
Obama bat den Kongress vor wenigen Tagen um die Bereitstellung zusätzlicher Notfallmittel – es geht um zwei Milliarden Dollar. Teil des Paketes ist der Plan, auch Kinder aus mittelamerikanischen Ländern künftig wieder ohne längeres Verwaltungsverfahren abzuschieben.
Wendy Young von der Menschenrechtsorganisation “Kind” (Kids in Need of Defense) ist empört über die Vorstellung: “Vierjährige sollen an einer Grenzstation ihre Angst vor Verfolgung oder Menschenhändlern zu artikulieren versuchen.” Auch Obamas demokratische Parteifreunde wünschen sich, je weiter entfernt von der Grenze, gegenteilige Maßnahmen und die schrittweise Legalisierung des Status der rund elf Millionen Illegalen im Land. Es werden jeden Tag mehr. Im handlungsunfähigen Washington schauen die Parteien nicht wort-, aber tatenlos zu.
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