Krise im Nahen Osten
Irak-Einmarsch war die Ursünde
Ein Gastbeitrag von Joschka Fischer
Erst fällt der Westen in den Irak ein, dann zieht er sich viel zu früh zurück: Gerade Europa muss dem Nahen Osten in Zukunft deutlich mehr Aufmerksamkeit schenken als bislang – im Interesse der eigenen Sicherheit.
Der alte Nahe Osten versinkt in diesen Tagen – jener Nahe Osten, den die europäischen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich während und nach dem 1. Weltkrieg aus der Erbmasse des osmanischen Imperiums geformt hatten und der bis in die Gegenwart hinein fortexistierte. Eine neuer Naher Osten entsteht – aus einem immer größer werdenden Chaos in dieser konfliktreichen Region. Zu dieser Entwicklung haben die USA ganz entscheidend beigetragen.
Ursünde dieser Entwicklung war die militärische Invasion im Irak 2003 unter Präsident George W. Bush. Die damals in Washington regierenden Neocons hatten den Kopf voller Ideologie und Wunschdenken. Die Realität aber vergaßen sie – und damit auch die Antwort auf die Frage, wie sie das durch den Sturz Saddam Husseins entstandene Machtvakuum im Land und in der Region zu füllen gedachten. Wenn sich dieselben irrenden Gestalten wieder nahen, angeführt von Tony Blair und Dick Cheney, um Obama zu kritisieren, dann ist das nur lachhaft; sie haben das heutige Desaster entscheidend verursacht.
Der Rückzug kam zu früh
Den zweiten Fehler im Irak machte Präsident Obama, der zu schnell und zu früh den militärischen Rückzug anordnete – damit waren die USA keine Ordnungsmacht mehr in der Region. Auch nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs blieb Obama passiv, und nun droht mit dem schnellen militärischen Vormarsch der Isis-Terroristen und deren Einnahme der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul der Zerfall des Irak. Die Grenze zwischen dem Irak und Syrien existiert faktisch nicht mehr. Bleibt dies so, stehen nicht nur die Grenzen des Irak infrage, sondern auch die vieler seiner Nachbarstaaten. Vermutlich werden dann die Grenzen der ganzen Region mit Gewalt neu gezogen werden. Und die humanitäre Katastrophe wird noch größere Dimensionen annehmen.
Gelänge es der Terrorgruppe Isis tatsächlich dauerhaft, ein staatsähnliches Gebilde in Teilen des Irak und Syriens zu etablieren, so würde das die Desintegration der Region gewaltig beschleunigen. Die Vereinigten Staaten hätten dann ihren “Krieg gegen den Terror” verloren; der Weltfrieden wäre ernsthaft gefährdet. Doch auch, wenn es den irakischen Truppen und ihren Unterstützern gelingt, einen Terrorstaat der Isis zu verhindern, bleibt die Lage extrem instabil, bleibt der syrische Bürgerkrieg ein hochgefährlicher Infektionsherd. Im Grunde ist, was in Syrien geschieht, kein Bürgerkrieg mehr. Es wird auf syrischem Boden der Kampf um die Vorherrschaft in der Region ausgetragen, zwischen Saudi-Arabien und Iran. Aufgeladen ist dieser Kampf mit dem alten innerislamischen Konflikt zwischen der Mehrheit der Sunniten und der Minderheit der Schiiten.
Die Kurden und der Iran sind die Gewinner des Isis-Vormarsches
Auch die Kurden waren ein Teil der Erbmasse des zerfallenden osmanischen Reiches. Ihnen allerdings blieb bisher ein eigener Staat vorenthalten; ihre Gebiete liegen in Irak und in Iran, in der Türkei und in Syrien. Seit Jahrzehnten kämpfen sie um einen eigenen Staat. Im Nordirak haben sie sich aufgrund schlimmer Erfahrungen jedoch seit dem Sturz Saddam Husseins sehr klug zurückgehalten. Sie haben sich mit dem Status der Autonomie begnügt, die Provinz Nordirak allerdings bis hin zur faktischen Unabhängigkeit wirtschaftlich und politisch erfolgreich aufgebaut. Sie verfügen mit ihrer Peschmerga, die aus dem kurdischen Widerstand im Irak hervorgegangen ist, über eine militärisch erfahrene und starke Armee.
Die kurdischen Kämpfer profitieren nun vom Vormarsch der Isis und der Einnahme von Mossul: Auf einen Streich sind alle strittigen und explosiven Territorialfragen zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der kurdischen Regionalregierung gelöst – zu Gunsten der Kurden. In der Erdölstadt Kirkuk hat die irakische Armee fluchtartig ihre Stellungen geräumt, die Peschmerga hat sie übernommen. Kirkuk gehört wieder den Kurden, die nun im Nordirak über genügend Öl und Gas verfügen, um wirtschaftlich unabhängig zu sein. Die Nachbarn Iran und Türkei und die USA werden die Kämpfer der Peschmerga gegen Isis dringend brauchen, sodass sich für die Kurden ein unverhofftes Fenster zum eigenen Staat aufgetan hat. Die Kurden können ein Stabilitätsfaktor im neuen Nahen Osten werden, was ihren nationalen Ambitionen sehr entgegenkommen dürfte. Andererseits brauchen die Kurden gute Beziehungen zur Türkei und zu Iran, da sie nur über diese Länder Zugang zum Weltmarkt haben.
In diesem neuen Nahen Osten werden zudem die USA gezwungen, zunehmend mit Iran zusammenzuarbeiten, auch wenn sich Washington und Teheran nach außen hin noch heftig gegen diese Entwicklung wehren. Doch schon heute sind direkte Gespräche zwischen beiden Seiten keine echte Nachricht mehr, sondern werden zunehmend Teil einer neuen Normalität. Die einstigen Todfeinde kämpfen nun gegen dieselben Dschihadisten – die wiederum werden von den sunnitischen Staaten der Golfregion unterstützt, den bisherigen Verbündeten der USA. Mit dem Einmarsch in den Irak haben die USA Teheran nicht nur die Tür zur regionalen Hegemonie geöffnet, sondern zugleich auch objektiv einen Allianzenwechsel zugunsten der Schiiten und Irans eingeleitet. Nun werden die langfristigen Auswirkungen dieses Wechsels sichtbar, inklusive der Nuklearverhandlungen mit Iran.
Jordanien spielt eine Schlüsselrolle
Eine der zentralen Fragen der Zukunft ist, ob Jordanien diese geopolitischen Veränderungen unbeschadet überstehen wird. Das Land hat mehrere Hunderttausend Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, die radikalen Islamisten versuchen auch hier, ihren Einfluss auszuweiten. Für die Statik der Region spielt das Königreich eine Schlüsselrolle. Bricht Jordanien zusammen, droht die gesamte Machtbalance im klassischen Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern zu kollabieren – mit schwer absehbaren Folgen.
Der neue Nahe Osten wird also keineswegs friedlicher werden – die Risiken bleiben für die internationale Politik und für den direkten geopolitischen Nachbarn Europa. Dort wird man sich darauf einstellen müssen, dass die Kurden und Iran im neuen Nahen Osten eine wichtige Rolle spielen. Unmittelbar ergeben sich für Europa aus dieser Entwicklung zwei Risiken: Erstens drohen die zurückkehrenden Dschihadkämpfer den Terror mitzubringen, den sie in Syrien oder im Irak gelernt haben. Und zweitens könnten die Ideen der Dschihadisten auf Teile des Balkans überspringen. Dieser südosteuropäischen Region werden Brüssel und die nationalen Hauptstädte der EU im Interesse ihrer eigenen Sicherheit eine sehr viel größere Aufmerksamkeit schenken müssen als bisher.
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