Der Westen hinterlässt in Afghanistan verbrannte Erde
Von Reinhard Erös
19.07.2014
Bis Ende des Jahres will die Nato ihre Soldaten aus Afghanistan abziehen. Denn: Die Sicherheitslage habe sich entscheidend verbessert. Die Realität sieht allerdings anders aus. Die Bilanz ist verheerend, die Lage explosiv. Der Westen hat aus den US-Fehlern im Vietnam-Krieg nichts gelernt.
Man war sich im Nato-Hauptquartier, im Pentagon und im Bundesverteidigungsministerium selten so einig: Ende 2014 werden wir den Kampfeinsatz in Afghanistan beenden und unsere, bis vor wenigen Jahren noch 100.000 Soldaten vom Hindukusch endgültig abziehen. Denn, so die angeblich feste Überzeugung, nach 13 Jahren Krieg habe sich die Sicherheitslage in Afghanistan entscheidend verbessert. Den Tribut, den der Westen dafür gezahlt hat: 3500 Nato-Soldaten – darunter 54 Bundeswehrsoldaten – sind gefallen, Zehntausende erlitten körperlich und seelisch Verwundungen. Mit einem Kostenaufwand von rund 900 Milliarden US-Dollar war es der wohl kostspieligste asymmetrische Krieg der Neuzeit – kostspielig bezogen auf die relativ geringe eigene Truppenstärke, den quantitativ eher bescheidenen Einsatz eigener Waffentechnik und die geringe Kampfkraft des Gegners.
Mehr Tote als jemals zuvor
Ab 2015 – so die Überlegung – würde es dann ausreichen, einige Tausend Ausbilder für höchstens zwei, drei Jahre noch im Land zu belassen. Die von der Nato über viele Jahre „gut ausgebildeten, zuverlässigen und hochmotivierten afghanischen Sicherheitskräfte“ (bis Ende diesen Jahres 400.000 Angehörige von ANA, der Afghan National Army, und ANP, der Afghan National Police) seien nämlich dann in der Lage, die Sicherheit im Vielvölkerstaat der zirka 30 Millionen Paschtunen, Tajiken, Hazaras, Turkmenen und einem Dutzend anderer Ethnien alleinverantwortlich zu übernehmen. Die Realität sieht im Sommer 2014, ein halbes Jahr vor dem geplanten Abzug, leider anders aus: Nach einem erst vor wenigen Tagen veröffentlichten Bericht der UNAMA (United Nations Assistant Mission in Afghanistan) kamen allein im ersten Halbjahr 2014 mehr Zivilisten zu Schaden als in all den Jahren zuvor: 1200 unbeteiligte Afghanen wurden bei Kampfhandlungen getötet, darunter 320 Kinder, und mehr als 4000 Zivilisten wurden schwer verletzt und verstümmelt.
Polizist in Afghanistan: Gefährlichster Beruf der Welt
Das Ansehen der afghanischen Sicherheitskräfte bei der eigenen Bevölkerung ist katastrophal: Bei einer landesweiten Umfrage bezeichneten 80 Prozent der Afghanen ihre Polizei als ungebildet, unzuverlässig, schlecht ausgebildet, als korrupt und kriminell. Trotz ihrer angeblich so exzellenten Ausbildung und Ausstattung kamen in den vergangenen Jahren jährlich mehr als 4000 Sicherheitskräfte bei Kampfhandlungen und durch „friendly fire“ ums Leben. Als gefährlichster Beruf gilt derzeit weltweit: Polizist in Afghanistan. Das Durchschnittseinkommen der afghanischen Familie liegt heute bei zwei US-Dollar pro Tag. Zur Erinnerung: Der Krieg kostete den Westen 900 Milliarden US-Dollar, pro Kopf der 30 Millionen Afghanen also 30.000 Dollar. Das ist mehr als das Lebenseinkommen einer typischen, zehnköpfigen afghanischen Familie. Für den zivilen Wiederaufbau hat der Westen weniger als 50 Milliarden Dollar investiert, und davon floss auch noch ein Großteil in die Taschen korrupter Politiker
Auch mit Bezug auf Afghanistan beklagt daher erstmals ein Bundesminister – Entwicklungshilfeminister Gerd Müller – das krasse „Missverhältnis zwischen militärischen Ausgaben und Aufwendungen für einen zivilen Wiederaufbau“. Als wäre die desolate Sicherheitslage kurz vor dem Abzug der Nato nicht schon dramatisch genug, gibt es jetzt auch noch Streit über den Sieger der Präsidentenwahlen vor einem Monat. Dieser bislang nur politische Streit kann sehr schnell das Feuer einer militärischen Auseinandersetzung entfachen. In den Personen der beiden selbst ernannten Wahlsiegern Wahlsiegern Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah stehen die Hauptethnien Paschtunen und Tajiken gegeneinander. Auch nach Abzug der Sowjets 1989 waren es Warlords dieser beiden Ethnien, die sich jahrelang um der Macht in Kabul willen bekriegten, die Hauptstadt dabei zerstörten und am Ende den Taliban zur Macht verhalfen.
Aus Vietnam nichts gelernt
Nach der Niederlage der US-Armee in Vietnam hat einer der intelligentesten jungen Offiziere der US-Armee, David Petraeus, an der Universität Princeton seine Promotionsarbeit mit dem Thema „History and Lessons of Vietnam“ veröffentlicht. Er kam dabei unter anderem zu dem Ergebnis, dass die beiden wesentlichen Gründe für die Niederlage eine unzureichende Ausbildung und Motivation der südvietnamesischen Armee und die fehlende Unterstützung der US-Truppen und ihrer südvietnamesischen Verbündeten durch deren eigene Bevölkerung gewesen seien. „To win hearts and minds“ (der Bevölkerung im Kriegsgebiet) – so Petraeus – sei eine unerlässliche Voraussetzung, um asymmetrische Krieg zu gewinnen. Dies sei in Vietnam nicht gelungen. Ein solcher Fehler dürfe sich bei weiteren Kriegen der USA nie mehr wiederholen. 40 Jahre später haben sich die beiden wesentlichen Ursachen für die Niederlage in Vietnam allem Anschein nach am Hindukusch nun doch wiederholt. Und dies, obwohl dort ein Vier-Sterne-General mit Namen David Petraeus als Oberbefehlshaber der Isaf in Verantwortung stand.
Bundeswehr muss aus Fehlern lernen
Man darf gespannt sein, ob nach dem Abzug der Nato aus Afghanistan diesmal vielleicht von einem „hochintelligenten Offizier der Bundeswehr“ eine Studie „Lessons learned in Afghanistan“ geschrieben wird. Falls ja, dann wäre sicher nicht nur ich überrascht, wenn dessen Erkenntnisse von der Führung der Bundeswehr – wie einst die Promotion von Petraeus in Princeton – auch veröffentlicht werden. Wichtig wäre eine Veröffentlichung für die gesellschaftliche Diskussion allein schon deshalb, weil unser Bundespräsident auch – bislang in der Bevölkerung durchaus umstritten – mehr weltweites militärisches Engagement unserer Republik fordert Und dieses Engagement sollte dann auch erfolgreich sein.
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