Grudge Against the Elder Brother

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Der Groll über den großen Bruder

Die NSA-Affäre wird als Skandal empfunden. Doch es gibt keinen dramatischen Einbruch des Vertrauens in die Vereinigten Staaten. Die Krisen in der Ukraine und im Mittleren Osten stärken die Rolle des Bündnispartners.

Eine für Sozialwissenschaftler besonders interessante Konstellation der Bevölkerungsmeinung ist der „Kreuzdruck“, den schon der österreichisch-amerikanische Pionier der Umfrageforschung Paul Lazarsfeld in den vierziger Jahren beschrieb. Kreuzdruck bedeutet, dass sich die Wähler von gegenläufigen Überzeugungen oder Loyalitäten hin- und hergerissen fühlen. In Lazarsfelds Tagen waren das beispielsweise Anhänger der Republikaner, die gleichzeitig eine gute Meinung über den damaligen demokratischen Präsidenten Roosevelt hatten. Solche Menschen brauchen, wie Lazarsfeld nachwies, besonders lange, um sich zu einer Wahlentscheidung durchzuringen. Die spannende Frage ist dann immer, welche der widerstreitenden Überzeugungen sich durchsetzt.

In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gab es wiederholt Situationen, in denen das politische Klima von Kreuzdruck geprägt war, beispielsweise im Bundestagswahlkampf 2005, als die meisten Deutschen eine Abwahl der Bundesregierung aus SPD und Grünen befürworteten, viele aber gleichzeitig Gerhard Schröder als Kanzler behalten wollten. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre war die Lage ähnlich. Damals war unter Unionsanhängern die Ansicht verbreitet, Helmut Schmidt sei eigentlich ein guter Bundeskanzler, nur bedauerlicherweise Mitglied der falschen Partei.

Entfremdung und Annäherung

Auch die aktuelle Haltung der Deutschen gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika lässt sich mit dem Begriff des „Kreuzdrucks“ beschreiben. In einigen Bereichen ist eine Entfremdung, in anderen eine leichte Annäherung zu beobachten. Alles in allem hat sich die schleichende Tendenz zum Antiamerikanismus, die noch im Januar 2013 festgestellt werden musste, zumindest nicht verstärkt.

Dabei zeigt sich die Bevölkerung angesichts der NSA-Abhöraffäre durchaus deutlich verärgert. Auf die Frage, ob sie es als großen Skandal empfänden, dass der amerikanische Geheimdienst die Telefon- und Internetverbindungen in Deutschland überwacht hat, antworten heute 66 Prozent der Deutschen mit „Ja“. Wandelt man die Frage etwas ab und spricht ausdrücklich an, dass die NSA auch das Telefon von Bundeskanzlerin Merkel abgehört hat, ändern sich die Antworten nicht wesentlich: 61 Prozent bezeichnen diesen Vorgang als großen Skandal.

Verletzte Gefühle

Dabei scheint die Reaktion der Deutschen nicht so sehr von der Besorgnis getrieben zu sein, es gehe von den NSA-Aktivitäten für sie selbst eine konkrete Bedrohung aus. Eine Grundlagenstudie zum Thema Freiheit und Datenschutz, der „Freiheitsindex Deutschland 2014“, der Anfang Oktober der Öffentlichkeit vorgestellt werden wird, zeigt, dass viele Menschen noch immer recht sorglos mit ihren persönlichen Daten umgehen.

Stattdessen meint man in den Antworten verletzte Gefühle zu erkennen. Eine Frage lautete „Zur Überwachung des Handys von Bundeskanzlerin Merkel sagte neulich jemand ,Als ich das gehört habe, war ich richtig enttäuscht von den Amerikanern.‘ Empfinden Sie das auch so, oder empfinden Sie das nicht so?“ 54 Prozent antworteten, sie empfänden das auch so.

Legt man den Befragten allerdings etwas ausführlichere Argumentationen vor, erkennt man, dass nicht wenige durchaus Verständnis für das Vorgehen des amerikanischen Geheimdienstes haben. Zwar stimmt eine relative Mehrheit von 48 Prozent der Aussage zu „Deutschland und die Vereinigten Staaten sind eng miteinander befreundet, und unter Freunden hört man sich nicht gegenseitig ab. Das ist ein großer Vertrauensbruch.“ Jedoch entscheiden sich auch 40 Prozent für die Gegenposition: „Natürlich ist es nicht schön, dass die Amerikaner uns abhören, aber die Aufgabe von Geheimdiensten ist es nun mal, Informationen zu sammeln und andere zu überwachen. Das machen nicht nur die Amerikaner so, sondern auch wir.“

Wahrscheinlich hat die vor wenigen Wochen bekanntgewordene Nachricht, dass auch amerikanische Politiker durch den BND abgehört worden sind, dem Ärger der Deutschen über die NSA etwas die Spitze genommen. Jedenfalls stimmt eine relative Mehrheit von 45 gegenüber 39 Prozent der Aussage zu: „Ich finde es peinlich, dass jetzt herausgekommen ist, dass wir die Amerikaner auch abhören. Jetzt kann sich niemand mehr darüber aufregen, dass die Amerikaner uns abhören.“

Obama Popularität gesunken

Doch trotz dieser Wendung des Themas hat das deutsch-amerikanische Verhältnis nach Ansicht der Bevölkerung erheblichen Schaden genommen. 2004, kurz nach dem zweiten Irak-Krieg, sagten 41 Prozent der Befragten, ihrer Ansicht nach seien die Beziehungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten „sehr gut“ oder „gut“. 2009 war der Wert auf 87 Prozent gestiegen. Heute liegt er bei 34 Prozent und damit noch etwas unter dem Niveau von vor zehn Jahren.

Stark gelitten hat auch das Ansehen des amerikanischen Präsidenten. Hier kann man von einer echten Entzauberung sprechen. Im November 2008, kurz nachdem Barack Obama die Präsidentenwahl gewonnen hatte, sagten 77 Prozent der Deutschen, sie hätten über ihn eine gute Meinung. Noch im Januar 2013 waren es mit 78 Prozent praktisch gleich viele. Heute äußern dagegen nur noch 47 Prozent eine gute Meinung über ihn. Doch das Beispiel Barack Obama zeigt auch, dass die heutige Lage nicht vergleichbar ist mit der tiefen Entfremdung, die das Klima Mitte des vergangenen Jahrzehnts prägte. Der Anteil von 47 Prozent, die sich positiv über Obama äußern, erscheint gering gegenüber den Werten der Vorjahre, doch er liegt nur knapp unter den langjährigen Popularitätswerten Clintons und klar über denen von Carter und Reagan. Die Zustimmung der Deutschen zu Obama bewegt sich heute also auf einem ganz normalen Niveau – und immer noch weit über den Werten seines Vorgängers George W. Bush, von dem 2008 nur fünf Prozent der Deutschen eine gute Meinung hatten.

Dass der Ärger über die NSA-Affäre nicht so tief geht, wie man angesichts des Ausmaßes der Abhöraktivitäten und der Medienberichterstattung über sie annehmen könnte, liegt offensichtlich an der angespannten Weltlage, die die Misstöne im deutsch-amerikanischen Verhältnis relativiert. Im März 2005 stellte das Allensbacher Institut zum ersten Mal die Frage „Von welchen Ländern geht in den nächsten Jahren die größte Gefahr, die größte Bedrohung für den Frieden in der Welt aus?“ Dazu wurde eine Liste mit 18 Ländern zur Auswahl überreicht. Damals stuften die Befragten die Vereinigten Staaten als eines der gefährlichsten Länder ein: genannt von 35 Prozent, lagen sie hinter Iran (50 Prozent), Nordkorea (48 Prozent) und dem Irak (38 Prozent) an vierter Stelle. Russland bezeichneten damals nur 7 Prozent als eine Gefahr für den Frieden. Heute werden der Irak (62 Prozent), Russland (55 Prozent) und Syrien (45 Prozent) als die Länder eingestuft, die den Frieden auf der Welt am meisten gefährden. Die Vereinigten Staaten liegen, genannt von gerade noch 14 Prozent, an elfter Stelle der Rangliste.

In einer solchen Situation gewinnt der Schutz, den das Bündnis mit den Vereinigten Staaten bietet, für die Deutschen wieder an Bedeutung. Fragt man, welche Länder besonders wichtig seien, wenn es darum geht, den Frieden in der Welt zu sichern, stehen die Vereinigten Staaten, genannt von 90 Prozent der Deutschen, mit deutlichem Abstand an der Spitze. Bei der Frage, mit welchen Ländern Deutschland möglichst eng zusammenarbeiten sollte, rangiert Frankreich mit 69 Prozent an erster Stelle, dann folgen die Vereinigten Staaten mit 60 Prozent. Das sind zwar vier Prozentpunkte weniger als im Januar 2013, doch dieser Wert liegt noch immer in der Bandbreite, in der die Antworten in den vorangegangenen Jahren schwankten, wenn auch an deren unterem Ende. Und der Aussage „Die Vereinigten Staaten sind heute die einzige zuverlässige Führungsmacht der Welt, die in den Krisengebieten der Welt für Frieden sorgen kann“ stimmen zwar nur 26 Prozent zu – 53 Prozent widersprechen -, doch das ist immerhin der höchste Wert seit mehr als einem Jahrzehnt. Das sind alles keine beeindruckenden Veränderungen, doch von einem dramatischen Einbruch des Vertrauens in die Vereinigten Staaten kann trotz der Irritationen um die NSA-Affäre offensichtlich keine Rede sein.

Bedrohung durch neue Krisenherde hat Wirkung

Deutlicher sind die Veränderungen der Antworten auf die Frage, wie Deutschland am besten für seine Sicherheit sorgen könne. 2011 sagten 59 Prozent, dies könne am besten durch die Mitgliedschaft in der Nato geschehen, heute sind es 71 Prozent. Der Anteil derer, die auf eine stärkere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU setzen, ist in der gleichen Zeit von 63 auf 68 Prozent gestiegen, die Zahl derjenigen, die sich ausdrücklich auf enge Beziehungen zu den Vereinigten Staaten verlassen wollen, von 32 auf 38 Prozent. Angesichts der Bedrohung durch neue Krisenherde wird vielen anscheinend die Bedeutung des westlichen Verteidigungsbündnisses wieder stärker bewusst – und damit auch der Wert der Bindung an die Führungsmacht.

Man kann sogar darüber spekulieren, ob nicht manchem angesichts der Kriege und Verbrechen in der Ukraine und im Nahen Osten auch die Gemeinsamkeit der westlichen Werte wieder etwas deutlicher vor Augen tritt. Die Ergebnisse sind in dieser Hinsicht nicht eindeutig, doch scheint sich so manche Tendenz der vergangenen Jahre zur immer negativeren Einschätzung der amerikanischen Gesellschaft nicht fortgesetzt zu haben. So stimmen heute 42 Prozent der Aussage zu: „Die Vereinigten Staaten sind nach wie vor das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo jeder Einzelne die Chance hat, sein Glück zu machen.“ Im Januar 2013 waren es nur 35 Prozent.

So zieht also der Ärger über die NSA-Affäre die Deutschen in die eine, das Bedürfnis nach Sicherheit im westlichen Bündnis in die andere Richtung. Unter dem Strich hat sich das Amerikabild der Deutschen weder wesentlich verbessert noch verschlechtert, doch es ist illusionsloser geworden. Mehr denn je erscheinen die Vereinigten Staaten wie der große Bruder, über dessen Rüpelhaftigkeit man sich ärgert, auf den man sich aber doch verlässt, wenn die Nachbarsjungen drohend am Schulweg stehen.

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