The Reticent President

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Der schweigsame Präsident

Hat Amerika den Mumm, das Pflaster von der halbverheilten Rassismus-Wunde zu reißen, frische Luft an die Verletzung zu lassen, neue Schmerzen zu ertragen und so eine echte Besserung zu ermöglichen? Ist der erste schwarze Präsident des Landes – ist Barack Obama dazu imstande? Ich fürchte, die Antwort heißt nein.

Obama – gefangen in seiner Position

Als der private Wachmann George Zimmerman, der den schwarzen Jungen Trayvon Martin in Florida erschossen hatte, freigesprochen wurde, sagte der Präsident, die Geschichte von Sklaverei und Rassentrennung verschwinde nicht einfach. Als im Sommer Michael Brown durch die Schüsse des Polizisten Darren Wilson ums Leben kam, betonte Obama sehr allgemein, schwarze Demonstranten und weiße Polizisten müssten den amerikanischen Rechtsstaat achten. Auch dem New Yorker Polizisten Daniel Pantaleo, der Mitte Juli den 43-jährigen Asthmakranken Eric Garner so in den Schwitzkasten genommen hatte, dass der starb, wird nicht der Prozess gemacht. Obama dazu: “Zwischen amerikanischen Idealen und der Art, wie Gesetze angewandt werden, tut sich ein Graben auf.” Stellung nehmen geht anders.

Der Graben, von dem Obama spricht, war nie verschwunden. Die große amerikanische Wunde, notdürftig mit den Pflastern der Abschaffung der Sklaverei, mit den Bürgerrechtsgesetzen von 1965 verklebt, klafft weiter, blutet weiter. Jeder Arzt will wissen, ob sich Keime gebildet haben, ob sich das Fleisch entzündet hat. Große Teile der amerikanischen Öffentlichkeit wollen es lieber mit den bisherigen Errungenschaften der Gleichberechtigung bewenden lassen, als noch einmal von vorn anzufangen.

Afroamerikaner bitter enttäuscht von ihrem Präsidenten

Und Obama ist gerade wegen seiner Hautfarbe nicht der richtige Mann für eine neue, wichtige Diskussion. Er muss Präsident aller Amerikaner sein. Die Schwarzen, eine Minderheit im Land, sind bitter enttäuscht von ihrem Mann im Weißen Haus. Er sollte nach ihrer Vorstellung vollenden, was Abraham Lincoln vor 150 Jahren angefangen, was Martin Luther King vor 50 Jahren fortgeführt hatte. Die gesellschaftliche und soziale Gleichstellung von Schwarz und Weiß. Aber Obama hat es mit einer Wirtschaftskrise, mit einer Krankenversicherungsreform, dem Druck der Migranten aus Mittelamerika, mit dem Islamischen Staat, Putin und Assad zu tun. Und vielem mehr.

Demonstranten könnten längst fälligen Prozess anstoßen

Ein Kampf gegen die Ungleichbehandlung? Der Präsident müsste einem Teil der Staatsmacht, deren Chef er ist, Rassismus unterstellen und ihn bekämpfen. Obama würde als Präsident ähnliches sagen müssen, was Bürgerrechtler und Pfarrer Al Sharpton bei der Beerdigung Michael Browns in Ferguson sagte: Dass nämlich Teile der schwarzen Bevölkerung aufhören müssen, sich gegenseitig zu bekämpfen, weiterhin im Drogensumpf unterzugehen und sich nur mäßig für die eigene Bildung interessieren. In allen Punkten würde der Präsident politische Verbotszonen betreten.

Das Pflaster bleibt auf der halbverheilten Rassismus-Wunde kleben, auch wenn die Heilung weiter verschoben wird. Der Präsident wird es nicht herunterreißen. Das erledigen vielleicht die Demonstranten, die jetzt in vielen amerikanischen Städten auf die Straße gehen.

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