30. Dezember 2014, 16:45 US-Proteste gegen Polizeigewalt
Warum Ferguson der Anfang war
Dass die Proteste in Ferguson nach dem Tod von Michael Brown eskaliert sind, finden Experten aus der Gegend nicht erstaunlich. Zu schwierig ist das Leben der schwarzen Bevölkerung.
Viele Gemeinden versuchen ihren Haushalt durch Strafzettel aufzubessern – in Ferguson sind es durchschnittlich drei pro Jahr und Haushalt. Arme Familien werden so leicht finanziell ruiniert.
Dass die Situation für Schwarze so schlecht ist, liegt an Regelungen der Rassentrennung, die erst vor Jahrzehnten behoben und nie aufgearbeitet wurden.
Von Matthias Kolb
David Whitt sitzt auf seinem Fahrrad, als er das schrecklich vertraute Geräusch hört. “Der Polizist hatte die Sirene angeschaltet und zwang mich zum Anhalten”, erinnert sich der 34-Jährige. Whitt wohnt in Ferguson, in den Canfield Green Apartments, wo auch Michael Brown lebte – und wo der schwarze Teenager am 9. August von dem weißen Polizeibeamten Darren Wilson erschossen wurde.
Als David Whitt im Sommer von der Polizei gestoppt wird, lebt Brown noch, und er fährt an diesem Tag zum zweiten Mal zum Supermarkt. “Ich hatte zuhause gemerkt, dass ich die Windeln vergessen hatte. Das Geld war alle, also musste ich einige Sachen im Laden zurückgeben, um die Windeln zu kriegen”, sagt er. Der Polizist durchsucht die Einkaufstüte, will die Rechnung sehen – und Whitts Ausweis, um zu kontrollieren, ob dieser vorher straffällig wurde. “Ich habe mich beschwert und ihn nach der Rechtsgrundlage gefragt”, sagt Whitt. Der Polizist habe entgegnet: “Du fährt ohne Helm, also kann ich dich anhalten.”
Dass es in den USA keine Helmpflicht gibt, weiß Whitt natürlich, doch Streit riskiert er nicht. Schließlich darf er weiterfahren, doch noch vier Monate später ärgert er sich über den Vorfall. “So etwas passiert ständig. Es ist entwürdigend, wie uns die Polizei behandelt”, klagt Whitt. Wer im Norden der Großstadt-Region St. Louis, zu der die Stadt Ferguson gehört, mit Bewohnern spricht, der hört ständig solche Geschichten.
Da verwundert es immer weniger, dass die Proteste gegen Polizeigewalt von hier aus halb Amerika erfasst haben und seit mittlerweile 140 Tagen andauern.
Es sind vor allem Aktivisten aus St. Louis, die regelmäßig Aktionen organisieren und versichern, dass sie erst aufhören, wenn sich “wirklich etwas ändert” (mehr in diesem SZ.de-Interview). Was sich ändern soll? “Wir haben in dieser Gegend eine traurige und hässliche Geschichte des Rassismus und der Trennung von Weiß und Schwarz”, sagt der Politikwissenschaftler Terry Jones von der University of Missouri St. Louis. In kaum einer amerikanischen Großstadt-Region sind Schwarze und Weiße stärker getrennt als in St. Louis. “Ferguson ist nicht schlimmer als andere Gemeinden in der Region, doch irgendwann musste es irgendwo krachen.”
“Das System macht die Leute kaputt”
Erzählungen von Polizeischikanen hört man in Ferguson gegenüber des ausgebrannten McDonald’s ebenso wie bei den Anhörungen der Ferguson-Commission, die Lösungsvorschläge für die verfahrene Situation erarbeiten soll. Hier berichten schwarze Mütter, dass sie Angst davor haben, dass ihre Söhne mit 16 den Führerschein machen: “Sobald sie hinter dem Lenkrad sitzen, werden sie zur Zielscheibe.”
Der Jurist Michael-John Voss hält solche Äußerungen keineswegs für übertrieben. “Es gibt hier ein System, das Leute kaputt macht”, sagt er. “Das sind gute Leute, keine gewalttätigen Kriminellen. Sie sind einfach nur arm und deswegen trifft sie das System mit voller Härte.” Das “System”, von dem Voss spricht, ist die Art und Weise, wie Ferguson und Dutzende Gemeinden der Region ihren Haushalt aufbessern: Ziel ist es, möglichst viele Strafzettel zu verteilen, um so die Einnahmen zu erhöhen.
Der 36-jährige Voss arbeitet für die Nichtregierungsorganisation “Arch City Defenders”, die Obdachlosen und Armen kostenlos juristischen Beistand gewährt und vor kurzem einen 37-seitigen Bericht über das Vorgehen der Polizei in der Gegend (hier als PDF) vorgelegt hat.
Die “Arch City Defenders” haben auch die offiziellen Zahlen zu Ferguson mit seinen 21 000 Einwohnern ausgewertet. Obwohl nur 67 Prozent der Bevölkerung schwarz ist, gingen 87 Prozent der Strafzettel an Afroamerikaner. 2013 gab das Gericht in Ferguson 24 000 Zahlungsbefehle aus: durchschnittlich drei pro Haushalt. “Diese Einnahmen machen knapp 30 Prozent des Haushalts aus, es ist der zweitgrößte Posten”, sagt Voss.
Er berichtet von Klienten, finanziell ruiniert wurden, weil ihr Blinker kaputt war oder sie angeblich zu schnell gefahren sind. Weil es im Landkreis 91 Kommunen gibt, von denen viele ihre eigenen Gerichte haben, ist das Risiko, eines “Vergehens” überführt zu werden, extrem hoch: Entlang der Natural Bridge Road befinden sich auf 16 Kilometer Länge genau 16 Gemeinden, die – etwa wegen einer fehlenden Versicherung – alle ein separates Verfahren einleiten können.
Die verhängten Strafen betragen oft mehrere hundert Dollar. Wer sich einen Anwalt leisten kann, der Einspruch erhebt, der zahlt zwar meist mehr, doch das Vergehen erscheint nicht in seiner Akte. Wer nicht persönlich erscheint, um die Gebühr zu bezahlen, erhält die nächste Strafe. Und irgendwann werden die “Arch City Defenders” aus dem Gefängnis angerufen. Michael-John Voss versteht, wieso viele Arme nicht mehr an den Rechtsstaat glauben: “Wir reden über Vergehen, bei denen es keine Opfer gibt, doch die Leute werden inhaftiert. Es ist ein Schuldengefängnis.”
Erhebliche Folgen für ganze Familien
Ein besonders dramatischer Fall ist der von Nicole Bolten. Die Mutter von vier Kindern hatte ihre Strafe wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung in Florisdale nicht bezahlt. Als sie 2009 unverschuldet in einen Verkehrsunfall verwickelt wurde, überprüfte die Polizei ihre Daten – und entdeckte die ausstehende Strafe. Ihre Schwester konnte die Kinder noch abholen, bevor der Sheriff Bolten ins Gefängnis brachte.
Zwar verfügen viele Gemeinden über ein städtisches Gericht, doch verhandelt wird nur alle zwei Wochen. Wer die Kaution nicht zahlen kann, der muss bis zur Verhandlung hinter Gitter. Wie Nicole Bolten verlieren viele ihre Jobs, wenn sie nicht zur Arbeit erscheinen. Wegen der Geringfügigkeit des Vergehens muss der Bundesstaat Missouri keinen Pflichtverteidiger stellen, der die Hintergründe erläutert. Um aus dem Gefängnis zu kommen, so berichtet Voss, verzichten viele Klienten darauf, über eine Reduzierung der Strafe zu verhandeln und bekennen sich unnötigerweise schuldig.
Mit weitreichenden Folgen: Durch das Schuldeingeständnis wird man offiziell zu einem Straftäter. Diese “felons” dürfen in vielen US-Staaten nicht wählen, sie haben kein Recht auf eine Sozialwohnungen und erhalten keine Essensmarken mehr. Zudem müssen Vorstrafen bei jedem Vorstellungsgespräch angegeben werden, was die Chance auf einen Job dramatisch verringert. Auch wenn nur ein Verkehrsvergehen dahinter steckt.
Außerdem fällt es Menschen, die mit verschiedenen Teilzeitjobs nur gut 12 000 Dollar im Jahr verdienen, sehr schwer, Strafen von durchschnittlich 275 Dollar abzuzahlen. “Oft geht es um die Entscheidung, Essen für die Kinder zu kaufen oder die nächste Rate zu begleichen”, sagt Voss. Natürlich dächten die meisten Eltern zunächst an ihre Söhne und Töchter. Diesen Zwiespalt kennen zahlreiche Schwarze in Ferguson: 22 Prozent der Einwohner sind auf Essensmarken angewiesen. Ähnlich viele leben unter der Armutsgrenze; unter den Kindern sind es 35 Prozent.
“Wir leben hier von einem Gehaltsscheck zum nächsten”, sagt David Whitt. Wenn es Jobs gebe, dann seien diese oft weit entfernt – nicht selten gehe die Hälfte des Lohns für Benzin drauf. Whitt und den Bewohnern der Canfield Green Apartments geht es wie allen Amerikanern, die keine oder nur eine schlechte Ausbildung haben. Für sie gibt es – unabhängig von der Hautfarbe – immer weniger Jobs in Industrie oder Handwerk. Es bleiben vor allem Teilzeitstellen.
Missouris lange Geschichte der Diskriminierung
Wie intensiv jeder einzelne nach einer Arbeitsstelle sucht, ist schwer zu beurteilen. Doch dass Afroamerikanern rund um St. Louis es schwer haben aufzusteigen (Details hier), hat Gründe, die weit zurück liegen. Um die aktuelle Situation zu verstehen, sagt Politik-Professor Terry Jones, müsse man bis zum Bürgerkrieg in den 1860er Jahren zurückgehen. Missouri sei lange ein Sklavenhalter-Staat gewesen, doch im “Civil War” habe es die siegreichen Nordstaaten unterstützt. “St. Louis sah aus wie eine typische Industrie-Stadt im Norden, doch es gab so viele Vorurteile gegenüber Schwarzen wie im tiefen Süden”, sagt Jones.
Solange die Fabriken boomten, zogen immer mehr Afroamerikaner nach St. Louis. In Schulen wie Wohngebieten gab es eine strikte Trennung zwischen Schwarz und Weiß, Gleichberechtigung gab es nur auf dem Papier. 1916 stimmten die Bürger von St. Louis für eine Regel, wonach alle Schwarzen nördlich der Hauptstraße Delmar Boulevard wohnen mussten. Als das Verfassungsgericht dies für verfassungswidrig erklärte, unterzeichneten alle weißen Anwohner untereinander Verträge, die es unter Strafe stellten, Häuser an Schwarze zu verkaufen oder zu vermieten.
Diese “restrictive deed covenants” setzten Missouris Gerichte jahrzehntelang durch – und zementierten so die Rassentrennung. Broschüren für Immobilienkäufer nannten für die jeweiligen Viertel unter anderem den “Anteil von Negern”. Auch Bauvorschriften, die es verboten, Mehrfamilienhäuser zu errichten, sorgen dafür, dass Weiße unter sich blieben.
“Schwarze hatten kaum Chancen, Grundbesitz zu erwerben. Dabei ist dies der klassische Weg, um in Amerika zu Wohlstand zu kommen: Die Immobilie gewinnt an Wert, sichert die Ausbildung der Kinder und kann vererbt werden”, sagt Terry Jones. Noch heute ist das durchschnittliche Vermögen eines weißen Amerikaners 13 Mal höher als das eines Schwarzen. Erst nach 1968 konnten Schwarze überall Immobilien kaufen. Dies beschleunigte den Trend der “White Flight”, der “Flucht der Weißen”. Letztere zogen immer weiter hinaus ins Umland, während der Anteil der Schwarzen stieg.
So veränderte sich auch Ferguson. Der Ort war bis Mitte der sechziger Jahre eine “sundown town”: Bei Einbruch der Dunkelheit musste alle Schwarzen verschwunden sein. Eine Straße ins benachbarte Kinloch, wo viele Afroamerikaner wohnten, war mit einer Kette versperrt; die andere konnten Fußgänger nutzten. “Wenn heute in Orten wie Ferguson ein Weißer wegzieht oder stirbt, dann sind Afroamerikaner die einzigen Interessenten”, erklärt Terry Jones. So erhöht sich deren Anteil immer mehr: 1970 waren die Weißen mit 74 Prozent in der Mehrheit, 2010 lag der Anteil der Schwarzen bei 67 Prozent.
Je ärmer die Bürger, desto schlechter die Schulen
Wegen der geringen Vermögen und der hohen Arbeitslosigkeit der Bewohner haben Gemeinden wie Ferguson oft zu wenig Geld. Die Folgen sind enorm: In Amerika beeinflusst die Höhe der Steuereinnahmen, wieviel für öffentliche Verkehrsmittel und vor allem für Schulen ausgegeben wird. In reichen Vororten verdienen Lehrer mehr und die Schulen haben mehr Mittel zur Verfügung – in ärmeren Städten reicht es kaum für die nötige Betreuung (Details über die Region St. Louis in dieser Pro Publica-Studie).
Immerhin: Vor Weihnachten hat die von Missouris Gouverneur Jay Nixon eingesetzte Expertenkommission über eine Reform der örtlichen Gerichte debattiert (Details hier). Zudem hat Staatsanwalt Chris Koster 13 Gemeinden des Landkreises St. Louis verklagt, deren Budgets verbotenerweise zu mehr als 30 Prozent aus Strafgebühren wegen Verkehrsverstößen bestehen.
Trotzdem wird es lange dauern, bis Bürger wie David Whitt den Polizisten wieder vertrauen können. Whitt hat mit Hilfe einer Organisation aus Kalifornien eine “Copwatch Group” gegründet. Sie filmen Polizisten und wollen so dafür sorgen, dass diese sich an Regeln halten und sich besser benehmen. 210 Kameras hat Whitt bereits verteilt. Wirklich neu sei eigentlich nur die Digitalkamera, die er um den Hals trage, meint er grinsend: “Die Polizei habe ich schon mein ganzes Leben lang beobachtet. Jetzt kann ich endlich dokumentieren, was hier tagtäglich passiert.”
Leave a Reply
You must be logged in to post a comment.