Germany Should Finally Become More American

<--

4. Januar 2015

Deutschland sollte endlich amerikanischer werden

In den USA streiten die Parteien wie die Kesselflicker, die Deutschen hingegen suchen den Konsens. Was ist für die Demokratie besser? Wahrscheinlich eine ausgewogene Mischung aus Konsens und Konflikt.

Von Hannes Stein

Es ist lästig, in einem Land mit zwei politischen Parteien zu leben, die es nicht einmal mehr fertigbringen, miteinander zu streiten. Zwei Parteien, von denen die eine glaubt, der Bolschewismus sei ausgebrochen, wenn es auch nur Ansätze einer allgemeinen Krankenversicherung gibt, und die andere meint, es sei kein Thema, wenn der Staat vor Schulden nur noch rote Zahlen sieht. Zwei Parteien, von denen die eine in illegalen Einwanderern nichts als eine bedrohliche Horde erblickt, und die andere nicht verstehen will, dass es für Angehörige der weißen Mittelschicht sehr einfach ist, großherzig zu sein, während Arme in solchen Zuwanderern vor allem eines sehen: eine Konkurrenz.

Zwei Parteien, von denen die eine allen Ernstes der Meinung ist, mit den verdorbenen Greisen in Teheran lasse sich ein Deal abschließen, während die andere nur verworrene außenpolitische Konzepte anbieten kann, die einander auch noch häufig widersprechen. Zwei Parteien, die – zumindest auf der Bundesebene – eine wunderbare Definition vergessen haben, die aus Großbritannien stammt: “Demokratie ist jenes System, wo die Mitglieder verschiedener politischer Klubs einander im Parlament wüst beschimpfen, um hinterher im Pub gemeinsam einen trinken zu gehen.”

Es ist also häufig lästig, Amerikaner zu sein. Zumindest wenn man zu jenen Amerikanern gehört, die der politischen Mitte zustreben: Die also entweder sehr rechte Demokraten wären oder sehr linke Republikaner, am liebsten aber eine Partei wählen würden, die es in Amerika leider nicht gibt. Eine Partei mit einem kühlen Rechnerhirn und einem heißen, mitfühlenden Herzen.

Der ewige Streit legt Washington lahm

Eine Partei des Kompromisses, der Vernunft und der Menschlichkeit. Eine Partei, die nicht dafür eintritt, Kinder abzuweisen, die in den Vereinigten Staaten Schutz vor dem Gemetzel in ihren Heimatländern suchen. Die aber gleichzeitig weiß, dass wir beim besten Willen nicht alle Immigranten hereinlassen können. Eine Partei, die gelernt hat, dass weltpolitische Feinde sich durch diplomatische Schmeichelei nicht in Freunde verwandeln werden. Und dass es in Wahrheit unmenschlich ist, Hoffnungen auf sozialstaatliche Zuwendungen zu wecken, die auf lange Sicht nicht erfüllbar sind. Eine Partei, die gleichzeitig versteht, dass jeder Dollar, den wir in die (vor allem frühkindliche) Erziehung stecken, sich hinterher hundertfach auszahlt. Und so weiter.

Die politische Zersplitterung in Amerika ist inzwischen mehr als ein Problem. Sie ist eine Plage. Sie legt den Betrieb in Washington lahm, indem sie dazu führt, dass die gewählten Entscheidungsträger in Wahrheit überhaupt keine Entscheidungen mehr fällen können, weil jeder Gesetzesentwurf durch die Gerichte zur Strecke gebracht werden kann.

Sie vergiftet die politische Atmosphäre in diesem Land. Sie drückt sich längst auch demografisch aus: Demokraten leben häufig in Gebieten, wo nur andere Demokraten wohnen, und Republikaner sind in ihren eigenen Siedlungsgebieten zu Hause. Es kommt also immer seltener vor, dass man bei einer Grillparty oder einem Straßenfest aufeinandertrifft, um seine Meinungen auszutauschen und

festzustellen, dass der andere ja irgendwie auch nur ein Mensch ist.

Gemeinsamer Zwangsurlaub für Demokraten und Republikaner

Niemand weiß, wie man dieses Problem lösen soll. Der Schriftsteller Stephen King hat einst vorgeschlagen, Demokraten sollte gesetzlich verpflichtet werden, eine Woche lang den rechten Kanal Fox News zu schauen, und Republikaner sollten im Gegenzug sieben Tage lang den linken Sender MSNBC ertragen müssen.

Die erzieherische Wirkung wäre eine ungeheure. Zunächst würde man feststellen, dass nur die Fernsehreklame identisch ist; als zweites würde die entsetzte Frage aufkommen “Verdammt noch mal, was ist das denn?”; in einem dritten Schritt könnte eine spannende inneramerikanische Debatte beginnen. Da ein entsprechendes Gesetz weder die Mehrheit dieser noch jener Seite finden würde – hier wären Demokraten und Republikaner sich endlich einmal einig –, könnte die Alternative darin bestehen, dass ein amerikanischer Multimilliardär (sei es der linke Bill Gates, sei es der rechte Sheldon Adelson) das Geld für Ferienlager spendiert, in denen demokratische und republikanische Familien kostenlos miteinander Urlaub machen dürfen. Es wäre womöglich die letzte Möglichkeit, dieses zerrissene Land wenigstens notdürftig zu flicken. Ja, es ist lästig, Amerikaner zu sein.

Es muss aber mitunter auch lästig sein, in Deutschland zu leben. Denn Deutschland hat genau dasselbe Problem, nur andersherum: Hier gibt es zu viel politischen Konsens. Der sichtbarste Ausdruck dafür ist Angela Merkel, die, weil sie ihre Pappenheimer kennt, weiß, dass sie den Deutschen die Wahrheit nur in winzigen Dosen zumuten darf und sich darum schon jetzt einen Preis als langweiligste Rednerin des 21. Jahrhunderts verdient hat (ein welthistorischer Fortschritt: Deutschland wird von einer Politikerin geführt, bei deren Reden man nach fünf Minuten begeistert einschläft!).

Der deutsche politische Konsens ist ein beständiges “Ja, aber”, ein Lavieren und Sich-Durchmogeln, ein beharrliches und mutwilliges Verschieben von Entscheidungen. Das soll keine Kritik sein, im Gegenteil: Was für ein zivilisiertes Land, das die politische Entscheidungsschlacht dauernd auf morgen vertagt! Allerdings hat der deutsche Dauerkonsens auch einen Preis. Dieser Preis besteht darin, dass sich an den Rändern der Wahnsinn formiert.

Am rechten Rand sind das die Leute von der Alternative für Deutschland und die stummen Pegida-Demonstranten in Dresden; am linken Rand tummeln sich die reaktionäre Linkspartei und die Teilnehmer der Friedens-Montags-Märsche. Und niemand soll sich wundern, wenn diese beiden Lager allerhand gemeinsam haben – die tief empfundene Liebe zu Wladimir Putin etwa. Verwunderlich ist nur, dass es so lang gedauert hat, bis auch in Deutschland eine rechtspopulistische Bewegung auf die Beine kam. Frankreich und Großbritannien sind da schon viel weiter.

Was ist auf Dauer schlimmer – wenn es zu viel oder wenn es zu wenig Konsens in einem Land gibt? Die kurze Antwort lautet: natürlich beides. Auf längere Sicht muss die Antwort aber sein, dass es besser ist, wenn Meinungsverschiedenheiten öffentlich ausgetragen werden, auch wenn es dabei fetzt, blitzt und knallt.

Deutschland wäre also zu wünschen, dass es amerikanischer wird. Dass die CDU nicht vor Bündnissen mit Rechtspopulisten zurückschrickt und SPD und Grüne sich mit der Linkspartei verbünden. Dass sich zwei Meinungsblöcke gegenüberstehen, die beide nicht sympathisch sind. Und dass endlich mehr Deutsche jene stille Verzweiflung kennenlernen, die Amerikaner der politischen Mitte häufig befällt.

About this publication