Jews of Europe, Come to America!

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Die antisemitischen Angriffe in Frankreich haben lange vor dem Terror in Paris begonnen. Seit einiger Zeit verlassen Juden ihr Land und ziehen nach Israel. Auch die USA sollten ihre Tore öffnen.

Seit ich in den Vereinigten Staaten lebe, lacht mein Herz jedes Mal, wenn ich eine Synagoge oder andere jüdische Einrichtung sehe. Warum? Weil ich dort selbstverständlich hineinspazieren kann. Wer aus Europa kommt, ist etwas anderes gewohnt: Panzerglas, Metalldetektoren, Polizisten mit Maschinenpistolen, israelische Sicherheitsleute. Jüdische Einrichtungen sind – zumindest in Deutschland – Festungen; dahinter lebt es sich wie in einem ständigen Belagerungszustand. Für die Psyche ist das naturgemäß nicht gesund. In Amerika steht zu besonderen Anlässen manchmal ein Polizeiauto auf der Straße. Das ist alles.

Ich habe diese Offenheit immer geliebt, sie kam mir wie ein Aufatmen vor. Aber seit der vergangenen Woche hat meine Freude einen Knacks bekommen. Als ich am Schabbat in die Synagoge ging, fiel mir ein, dass ein Irrer mit einer Maschinenpistole hier ein schönes Schlachtfest veranstalten könnte. In einer Gebetspause habe ich mit einem unserer jungen Rabbiner darüber gesprochen.

Er sagte, es werde in Zukunft mehr Leute geben, die achtgeben, was auf der Straße vor der Synagoge so vor sich geht. Er sagte aber auch, es gebe keine Pläne, sich einzumauern – das würde dem Geist unserer Synagogengemeinde widersprechen. Natürlich hat er recht.

Asyl für Juden in den USA?

Unterdessen hat Rabbi Shmuel Herzfeld, ein ziemlich berühmter Rabbiner aus Washington D.C., einen Artikel in der “Washington Post” veröffentlicht, in dem er die amerikanische Regierung dazu auffordert, den europäischen Juden Asyl zu gewähren. Der Anschlag auf “Charlie Hebdo”, der Mord an vier Juden in einem koscheren Supermarkt seien nur ein Teil eines fortgesetzten Angriffs auf die Juden in der europäischen Diaspora.

Die Vereinigten Staaten, schreibt Herzfeld, sollten den kapitalen moralischen Fehler nicht wiederholen, den sie in der Nazizeit gemacht haben, als sie die Tore vor jüdischen Flüchtlingen aus Europa fest verrammelten. Gewiss, heute gibt es den Staat Israel; aber viele Juden könnten kein Hebräisch oder hätten aus anderen Gründen keine Lust, sich im zionistischen Staat niederzulassen.

Die Liste der antisemitischen Angriffe, die Herzfeld anführt, ist lang und deprimierend. Demonstranten, die rufen: “Juden, Frankreich gehört euch nicht.” Eine Frau mit Kinderwagen, die von einem Mann angegriffen wird, der ihr ins Gesicht sagt: “Schmutzige Juden, es reicht mit euren Kindern, ihr habt sowieso schon zu viele Kinder, verpisst euch.”

Der Wendepunkt kam 2006

Der Wendepunkt kam für viele jüdische Franzosen eigentlich schon 2006, als Ilan Halimi von einer antisemitischen Gang entführt und drei Wochen lang zu Tode gefoltert wurde. Seither hat die Gewalt nicht aufgehört. Im Juli versuchte ein wütender Mob, die Abravanel-Synagoge in Paris zu stürmen.

Aus deutscher Sicht könnte ich der Liste von Rabbi Herzfeld allerhand hinzufügen. Kippaträger müssen in Deutschland jederzeit mit einer Abreibung rechnen. Und sage keiner, die Gewalt gegen Juden gehe nur von muslimischen Einwanderern aus.

Als eine kleine Gruppe mit einer Israelflagge sich neulich unter die Pegida-Demonstranten in Dresden mischen wollte, schlug ihr offener Hass entgegen. Außerdem sei nicht vergessen: Nach dem Gerichtsurteil in Köln, das 2012 die religiöse Knabenbeschneidung verbot, fanden viele Deutsche es völlig in Ordnung, den unter ihnen lebenden Juden mitzuteilen, ihre archaischen Bräuche hätten in einem zivilisierten Land nichts verloren.

Allerdings gibt es auch noch die amerikanisch-jüdische Journalistin Claire Berlinski, die mit ihrem Vater in Paris lebt. Sie schrieb in einem furiosen Blogeintrag, dass sie nicht die geringste Lust habe, ihre Stadt zu verlassen: “Nicht wegen ein paar Terroristenschweinen, nicht einmal, wenn es eine Armee von ihnen geben sollte. Diese jüdische Familie wird nicht zum zweiten Mal aus Frankreich vertrieben werden. So weit es mich betrifft, sollte die Antwort eines Juden auf dieses Massaker dieselbe sein, die wir schon einmal gegeben haben – gegen einen Feind, der viel furchtbarer war: Wir mögen sterben, aber wir werden kämpfend sterben, und ihr werdet euch wundern, wie viele von euch wir dabei mitnehmen.”

Kein Zweifel, das ist eine tapfere Antwort, und es kann gut sein, dass viele französische Juden dieses Gefühl teilen. Als Benjamin Netanjahu in der Großen Synagoge von Paris war, schallten ihm “Bibi, Bibi”-Rufe entgegen – auch von Leuten, die seine Politik ablehnen und ihn, wenn sie könnten, auf der Stelle abwählen würden.

Wie gut, dass es Israel gibt, hieß das übersetzt. Wie gut, dass wir ein eigenes Land, eine eigene Armee haben. Aber dann stimmten die Leute in der Synagoge spontan nicht die israelische Nationalhymne, sondern die “Marseillaise” an. (Es war schwer, dabei nicht an die berühmte Filmszene aus “Casablanca” zu denken.) Wir sind stolze Franzosen, sollte das heißen. Wir lassen uns dieses Vaterland von keinem dahergelaufenen Mörder rauben.

Allerdings muss man gleichzeitig zugeben: Der Exodus der französischen Juden hat längst begonnen. Beinahe 7000 von ihnen sind anno 2014 nach Israel ausgewandert – doppelt so viele Leute wie im Vorjahr. Bei einer Umfrage unter 3833 jüdischen Franzosen stellte sich heraus, dass 74 Prozent von ihnen mit dem Gedanken spielen, das Land zu verlassen.

Selbstverständlich ist es eine ganz und gar individuelle Entscheidung, ob man dableibt oder geht. Die Bilder von der großen Demonstration in Paris haben auch mich bewegt. Es ist nicht wahr, dass Frankreich keine Solidarität mit den Juden gezeigt hätte. Auch glaube ich gern, dass die Mehrheit der Muslime die Blutbäder in Paris mit Entsetzen sieht. Trotzdem frage ich mich manchmal, was jene Juden, die in Europa bleiben, damit eigentlich beweisen wollen. Dass Hitler nicht gesiegt hat? Aber er hat ja gesiegt.

Den Krieg gegen die Juden hat er gewonnen. Die polnische Judenheit – einst eine blühende Gemeinde – wurde beinahe vollständig ausgelöscht. Ebenso die Gemeinden in Litauen, die einst Zentren der jüdischen Gelehrsamkeit waren. Thessaloniki – von dem David Ben-Gurion einst sagte, es gebe keine jüdischere Stadt auf der Welt – haben Eichmann und Konsorten nach dem März 1943 binnen weniger Monate “judenfrei” gemacht: an die 40.000 Männer, Frauen und Kinder, die nach Birkenau deportiert und vergast wurden.

In den USA ist Judesein etwas Entspanntes

Dass es in unseren Tagen zu einem Ausbruch des antisemitischen Furors kommt, wie wir ihn seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt haben, ist eigentlich nur ein Postskriptum, mehr nicht.

Ich möchte jedenfalls nicht, dass mein Sohn in einem Europa aufwächst, das im Grunde ein riesiger jüdischer Friedhof ist. Ich möchte nicht, dass irgendwer ihm ins Gesicht spuckt, weil er eine Kippa trägt. Ich will nicht, dass er sich sagen lassen muss, seine archaischen Bräuche hätten in diesem Land nichts zu suchen.

Er soll in einem Umfeld aufwachsen, in dem Judesein etwas ganz Undramatisches, beinahe schon Langweiliges ist. Außerdem würde mir natürlich gefallen, wenn es in New York mehr koschere französische Restaurants gäbe. Und darum hat Rabbi Shmuel Herzfeld recht: Die Vereinigten Staaten sollen gefälligst ihre Tore aufmachen.

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