The Gas Station and the Airport: Two Worlds in the US

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Das in den anbrechenden Wintermorgen hinein leuchtende Neonschild weckt nostalgische Gefühle. «2.05» steht da in grossen Lettern. Es ist Anlass für ein mildes Lächeln auf den Gesichtszügen zahlreicher Autofahrer, die auf dem Weg zur Arbeit an der Ampel stehen und den Blick über das Display der Tankstelle schweifen lassen. Zwei Dollar und fünf Cent für eine Gallone Normalbenzin – wann hat es das zuletzt gegeben? Die nüchterne Antwort der Statistiker würde lauten: 2002. Auch das ist schon sehr lange her. Die meisten Pendler indes sind schon so lange Gallonenpreise mit einer 3 oder gar einer 4 vor dem Punkt gewohnt, dass die Epoche erschwinglichen Treibstoffes vom Gefühl her viel weiter in der Vergangenheit angesiedelt wird. Das muss doch damals gewesen sein, als man kühne Föhnfrisuren und Schulterpolster trug? Freilich hilft in diesem Moment das Radio, eingestellt auf Classic Rock 100.3 der Imagination kräftig nach, erquickt doch gerade Wham mit «Wake me up before you gogo!» den mit der Müdigkeit kämpfenden Werktätigen. Eine solche Wohltat wie erschwingliches «gas» muss einfach in einer Epoche angesiedelt werden, als es mit Amerika endlich wieder aufwärts ging, als die sonore Stimme des Präsidenten mit seinem unverkennbaren Hollywoodcharme verkündete, dass es «morning in America» sei und dass der Nation beste Tage noch vor ihr lägen.

Kaum eine andere Zahl aus dem amerikanischen Wirtschaftsleben kann das Wohlbefinden so nachhaltig beeinflussen – oder, falls sie viel zu hoch ist, vermiesen – wie der Benzinpreis, der einen immensen Einfluss auf das Budget der arbeitenden Bevölkerung hat. Ohne Auto geht es in diesem Lande nun einmal nicht und selbst in der Hauptstadt Washington mit ihrem (meist) gut funktionierenden Metro-System verschiedener das Stadtgebiet und sein Umland durchziehender U-Bahn-Linien scheint sich die morgendliche Karawane der Pendler auf dem Interstate bis weit hinter den Horizont zu erstrecken. Kein Zweifel daher: Dies ist eine Grösse, die Wirkung hat. Und in der Tat ist in diesen Tagen ein Stimmungsaufschwung mit Händen zu greifen, der allenfalls bei den Fans der Verlierer in der Super Bowl einen vorüber- gehenden Dämpfer erleiden wird. Es herrscht weithin Optimismus vor wie in den Tagen von Ronald Reagan, der diesen zu verbreiten verstand, bevor die Zahlen dies rechtfertigten. Wenn die Preise das gegenwärtige Niveau halten, werden Amerikas Haushalte geschätzte 75 Milliarden Dollar einsparen. Das ist Geld, das in andere Bereiche der Wirtschaft gesteckt werden könnte. Wie jede wirtschaftliche Entwicklung hat auch diese Licht- und Schattenseiten. Auf politischer Ebene dürfte die gute wirtschaftliche Stimmung auch zum Aufschwung in den Umfragewerten von Präsident Obama beigetragen haben, der jetzt wieder bei etwa 50 Prozent Zustimmungsrate liegt. Nachteilig ist der Ölpreiszerfall umgekehrt gerade für einige jener Gliedstaaten, die Hochburgen seiner politischen Gegner sind. North Dakota beispielsweise, an der Wahlurne stramm republikanisch, hat einen Boom dank Erschliessung neuer Ölvorkommen erlebt, der an die Goldgräbertage in Kalifornien und Alaska erinnert. Möglicherweise sinkt der Anreiz, immer tiefere Schichten unter der Prärie wegzufracken, jetzt ein wenig. Apropos Alaska: Auch dieser Gliedstaat hat sich von Öl und Gas abhängig gemacht, die Hälfte seines Budgets kommt aus sprudelnden Quellen. Dort jubelt man nicht – wie wir in Washington, wie New Yorker, wie Chicagoer – über Zahlen wie 2.05.

Nun ist es auch bei uns wie überall im Lande leicht möglich, in einen Bereich zu fliehen, in dem der niedrige Ölpreis keinerlei Spuren hinterlassen hat, in dem man sich nicht an 1983 oder 1986 oder 2002 erinnert fühlt, sondern – an vergangenes Jahr. Dieses Refugium vor Erleichterung und Freude an erspartem Treibstoffgeld sind die Flughäfen des Landes. Wahrscheinlich vertrete ich eine Minderheitenmeinung, wenn ich bekenne, dass ich in den USA ausserordentlich gern fliege – stets habe ich die Bediensteten der Airlines wie der Flughafensicherheit als höflich und effizient erlebt, die meisten Flüge waren und sind (einigermassen) pünktlich, die Kameraderie mit anderen Passagieren in den voll besetzten Kabinen der Konservenbüchsenklasse erinnert ein wenig an die Pioniertage der Eisenbahn in den 1860ern und vor allem: man legt die grossen Strecken in diesem Land zuverlässig schnell zurück. Allein jedoch: die Preise! Die Senkungen derselben an den Tankstellen sind an den Fluggesellschaften praktisch spurlos vorbeigegangen, und zur Frustration vieler Reisender zeigen sie nicht die leiseste Tendenz nach unten. Den Gedanken, eine in diesem Monat stattfindende medizinische Konferenz im warmen Miami zu besuchen, verdrängte ich angesichts von mehr als 800 Dollar für den zweistündigen Direktflug (zu denen natürlich noch 25 Dollar pro aufgegebenes Gepäckstück kommen). Mit Umsteigen – und einigen Stunden irgendwo in North Carolina – wäre man knapp unter 500 Dollar geblieben.

Die Immunität der Flugpreise liegt, so die Airlines-Sprecher, an den längerfristigen Lieferverträgen. Das hört manch einer mit einer Portion Unglaube wie der New Yorker Senator Charles Schumer, der eine Untersuchung fordert, warum ausgerechnet der Flugverkehr «die wirtschaftliche Gravität» mit Missachtung straft. Vielleicht hat es auch etwas mit dem Konzentrationsprozess und der positiven wirtschaftlichen Entwicklung der Airlines zu tun. Die Zusammenschlüsse haben den grossen vier eine beherrschende Stellung gegeben. Flüge sind grundsätzlich ausgebucht; Destinationen, zu denen dies nicht dauerhaft möglich ist, verschwinden aus dem Flugplan. Die Branche, deren Mitglieder jahrelang am Rande des Konkurses operierten, fährt wieder Gewinne ein. So steht zu erwarten, dass die Abflughallen weiterhin Zonen sind, in denen man sich von allzu viel Euphorie über das neuerlich erfreuliche Erlebnis des Tankens wird erholen können.

Und immerhin: nach wie vor gibt es Angebote, welche die Kosten einer Autofahrt zum Ziel auch bei niedrigen Spritpreisen unterbieten. Kürzlich flog ich nach Boston. Der Flug in die schöne, geschichtsträchtige Stadt kostete erstaunliche 132 Dollar. Vielleicht bleibt es ja dabei, so möchte man mit einem Anflug des momentan landestypischen Optimismus hoffen, auch in einer Jahreszeit, in der einem die Hand nicht binnen zwei Minuten nach Verlassen des Flughafengebäudes an Koffergriff festfriert.

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