The Forgotten Ones of North Baltimore

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Die Vergessenen von Nord-Baltimore

Die Amerikaner sind erschrocken über die Gewalt in Baltimore, doch es gibt Erklärungen. Wie auch in ähnlichen Stadtvierteln der USA sind Drogen die einzige Geldquelle. VON SEBASTIAN MOLL, BALTIMORE

An diesem Abend macht in Baltimore der Nihilismus eine Pause. Kurz nach Beginn der Ausgangssperre um 22 Uhr gibt es an der Pennsylvania Avenue ein kleines Scharmützel, doch die Handvoll Demonstranten lässt sich mit ein wenig Pfefferspray vertreiben. Danach ist nur noch eine Polizei-Phalanx von Männern in schwarzer Kampfmontur, mit Helm, Weste und Schild, zu sehen.

Keine 24 Stunden zuvor hatte die Pennsylvania die zornigen Horden aus den Ghettos in die wohlanständigen Bezirke gespült, wo sie einen Korridor der Verwüstung angerichtet haben. Vernagelte Läden, ausgebrannte Autos und eine verkohlte Drogerie zeugen davon. Seit am Dienstagfrüh die Nationalgarde von Maryland angerückt ist, herrscht jedoch ein angespannter Frieden hier, vorläufig jedenfalls. Denn der Zorn, der die Jugendlichen am Montag dazu angetrieben hat, Steine zu schmeißen, sitzt tief.

Man muss nur ein paar Schritte von der Pennsylvania Avenue wegtreten, um diesen Zorn zu finden, zwischen den ärmlichen Holzbuden und Autoteilehändlern hindurch, die schmale Primrose Avenue hinunter, die nach hundert Metern am Rande eines Wäldchens vor einem riesigen Flachbau endet. Das Gebäude wirkt wie eine Lagerhalle, doch der Innenraum mit gut 1.000 Stühlen ist eine Megachurch.

Gangs schließen Waffenruhe

Eingeladen hat Jamal Bryant, der Pastor der Gemeinde, der auch die Grabrede für den in Polizeigewahrsam verstorbenen Freddie G. gehalten hat. Es soll demonstriert werden, “dass das, was wir gestern auf der Straße gesehen haben, nicht unsere Stadt ist”, wie Bryant beschwörend ins Mikrofon schreit. 300 Geistliche aller Couleur sind gekommen, Menschen aus allen Stadtteilen, mit allen Hautschattierungen, Alte, Junge, Arme, Reiche. 50 Gang-Angehörige der gefürchteten Crips und Bloods sind auch dabei. Sie haben ihr ewiges gegenseitiges Morden vorübergehend eingestellt und eine Waffenruhe erklärt.

Der Höhepunkt des Abends ist ein rituelles Lamento, das die Seele der Stadt reinigen soll. Bryant will den Bürgern von Baltimore die Gelegenheit geben, ihre Wut produktiv zu äußern, ihren Ärger vor der Gemeinde zu artikulieren, anstatt Scheiben einzuschmeißen. Der Bedarf dafür ist groß, die Schlange derer, die anstehen, um ihre Stimme zu erheben, reicht bis an den Ausgang.

Da ist etwa Sandra, eine knapp 60 Jahre alte, gebürtige Jamaikanerin. Sie hat zusehen müssen, wie ihr Sohn erschossen wurde, mit neun Kugeln aus Polizeirevolvern, weil er ein Kartonmesser in der Hand hielt. Eine Untersuchung oder eine Anklage gab es nicht. “Es kümmert keinen, niemand interessiert sich dafür”, weint sie in den Saal.

Oder die 16 Jahre alte Jamira, deren Bruder von der Polizei erschossen wurde und die von keinem College aufgenommen wird, weil sie das traumatisiert hat, sie psychisch labil ist und der Schulpsychologe ihr kein Gutachten ausstellen mag. Dabei wünscht sie sich nichts sehnlicher, als eine Ausbildung, mit der sie etwas aus sich machen kann, mit der sie dem Elend hier entkommen kann. Und auch sie benutzt die Worte, die man an diesem Abend hier immer wieder hört: “Es kümmert niemanden. Es interessiert einfach keinen.”

Seite 2/2: Systematischer Krieg gegen die Unterschicht

Es ist das bestimmende Lebensgefühl der Menschen von Nord-Baltimore: vergessen zu sein. Seit Jahrzehnten werden die Viertel, die den Geschäftsbezirk der Innenstadt umringen, wie ein Sumpf mit faulem Brackwasser sich selbst überlassen, versorgt nur mit dem Allernötigsten. Wer hier aufwächst, hat kaum eine Chance, dem Kreislauf von Armut und Kriminalität zu entkommen. “Es werden Zonen geschaffen, in denen der Drogenhandel die einzige zur Verfügung stehende Einkommensquelle ist”, hat David Simon, Schöpfer der Kultserie The Wire, einmal gesagt.

Grundlage von The Wire war Simons jahrzehntelange Erfahrung als Polizeireporter in Baltimore. Wer die Serie kennt, der kann sich deshalb nicht über den Tod von Freddy G. gewundert haben. “Die Polizei”, so Simon, “führt einen systematischen Krieg gegen die Unterschicht.” Die Ghettos, die Simon beschreibt und die sich in Nord-Baltimore, der South Side von Chicago und auch in Ferguson kaum unterscheiden, sind laut Simon Verwahrungsstätten für eine dauerhafte Unterkaste, streng bewacht von einer hochgerüsteten, aggressiven Staatsmacht.

Deshalb haben viele hier im Empowerment Temple von Pastor Bryant Verständnis für die Ausschreitungen, auch wenn niemand sie offen billigen mag. Eine Frau um die 40, die sich als Lehrerin vorstellt, sagt etwa. “Ich bin nicht stolz darauf, wie sich unsere Jugendlichen gestern benommen haben. Aber ich bin stolz darauf, dass sie uns wachrütteln.”

“Wir haben uns viel zu sehr damit abgefunden”

Auch das hört man an diesem Abend oft. “Wir Älteren”, gibt ein Mann um die 50, der auf die Lehrerin folgt, seiner Vorrednerin recht, “haben uns viel zu sehr damit abgefunden, wie die Dinge nun einmal sind. Die Jüngeren lassen sich das nicht gefallen, sie sind noch nicht so abgestumpft wie wir.”

An der Kreuzung West North Street und Pennsylvania, genau dort, wo die Jugendlichen am Montag eine Drogerie niedergebrannt haben, herrscht am Dienstag so etwas wie Festival-Stimmung. Mitten auf der Kreuzung haben zwei Trommler und ein Saxofonist eine spontane Jazz-Session angestimmt, die Umstehenden tanzen dazu ausgelassen. Weiße Studenten von der Johns Hopkins University sind gekommen, um Solidarität zu zeigen. Über den ganzen Platz verteilt wettern Redner durch Flüstertüten gegen Polizeigewalt, Armut und Korruption.

Freiwillige aus der Nachbarschaft haben sich selbst daran gemacht, ihr Viertel wieder aufzuräumen. Aus der Drogerie wird gerettet, was zu retten ist, der Schlamassel aus Löschwasser und Unrat wird zusammengefegt. Die Bibliothek an der Ecke hat geöffnet, es wird Normalität demonstriert. Nichts deutet darauf hin, dass die Lage wieder kippen könnte.

Man will Frieden hier. Aber einfach wieder zur Tagesordnung übergehen will man auch nicht. “Es muss sich etwas ändern”, sagt Christyn Wallace, eine junge Frau, die mit ihrer Freundin Latoya gekommen ist, “weil ich es zu Hause auf dem Sofa nicht ausgehalten habe.”

Kinder haben schon Angst vor der Polizei

Christyn und Latoya kennen die Probleme hier nur allzu gut. Sie unterrichten an der Grundschule des Viertels. “Wir haben 40 Kinder in der Klasse”, erzählen sie, “und jedes Jahr werden die Mittel knapper.” Erst im vergangenen Jahr seien wieder zwei Jugendzentren geschlossen worden, wo die Kids nach der Schule hingehen konnten. Den Kindern, die meistens aus schwierigen Familien kommen, eine Perspektive zu vermitteln, sei praktisch unmöglich. Am schlimmsten finden Christyn und Latoya jedoch, dass die Kinder mit sechs, sieben Jahren schon Angst vor der Polizei haben. “Jeder hat einen Vater oder einen großen Bruder, der einmal schikaniert oder missbraucht worden ist.” Selbst Polizist zu werden, würde ihnen nicht im Traum einfallen.

Wenn sie über die Probleme hier nachdenken, sagen die beiden jungen Frauen, wären sie manchmal kurz davor, zu verzweifeln. “Unsere Viertel und die Menschen hier werden seit vielen Jahrzehnten systematisch unterdrückt.” Die Tatsache, dass der Polizeichef und die Bürgermeisterin jetzt schwarz sind, habe da genauso wenig geändert, wie dass Obama im Weißen Haus sei. “Das sitzt zu tief.”

Die Hoffnung geben sie dennoch nicht auf. Das Viertel, ja die ganze Stadt dem Nihilismus zu überlassen, ist für sie keine Option. “Wir müssen doch daran glauben, dass man das überwinden kann, was bleibt uns denn sonst übrig?”

Der Frieden ist brüchig in Baltimore, denn der Konflikt hat nicht erst am vergangenen Wochenende begonnen. Und er wird auch bestimmt nicht am nächsten Wochenende wieder vorbei sein.

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