Das größte Problem ist nicht die Polizei
Von Konrad Ege
08.05.2015
Ungleichheit Nach dem Abzug der Nationalgarde soll Baltimore zur Normalität zurückkehren. Doch Zweifel sind angebracht, denn es geht nicht nur um Polizeibrutalität
Das größte Problem ist nicht die Polizei
Die Nationalgarde wird abgezogen aus Baltimore, der rund 620.000 Einwohner zählenden Metropole knapp eine Autostunde nördlich der US-Hauptstadt Washington. Die Kamerateams sind weg, die nächtliche Ausgangssperre ist aufgehoben, das Glas zusammengekehrt. Mehrere Tage nach den Ausschreitungen wegen der tödlichen Verletzungen, die ein junger Afro-Amerikaner in einem Gefangenentransporter der Polizei erlitt, sei wieder Normalität eingekehrt. Nun könne der Prozess der Heilung beginnen, sagte Stephanie Rawlings-Blake, Bürgermeisterin von Baltimore.
Zweifel sind angebracht. Es geht nicht nur um Polizeibrutalität. Die Normalität in Baltimore ist bitter wegen einer himmelschreienden sozialen Ungleichheit und Not. Zum Beispiel in Quartieren wie Sandtown, wo Polizeiopfer Freddie Gray herkam, nur ein paar Kilometer entfernt von Opulenz und Edelgastronomie. In den armen Vierteln liegt die Lebenserwartung bei Mitte 60, in den wohlhabenden bei Mitte 80. In den armen Vierteln ist beinahe die Hälfte arbeitslos. Jeder Dritte hat keinen Grundschulabschluss. Und fast alle Bewohner der kaputten Gegenden sind schwarz. Diese Misere ist keine Naturkatastrophe. Sie lässt sich auch nicht auf Rasse reduzieren und ist kein Resultat moralischer oder sonstiger Verfehlungen der Armen, wie das oft suggeriert wurde im Kommentarton zu den Fernsehbildern von Aufgebrachten, die mit „sinnlosen Gewalttaten“ die eigene Nachbarschaft zerstörten.
Zerstörung sieht anders aus. Nach Angaben der Stadtverwaltung stehen 16.000 Häuser in Baltimore leer. Schuld sind nicht Molotow-Cocktails. Die Politik wollte die Deindustrialisierung der vergangenen Jahrzehnte nicht mit Wirtschafts- und Sozialprogrammen auffangen.
Und das mit der Rasse? Mehr als 60 Prozent der Stadtbewohner sind Afro-Amerikaner. In Baltimore galt bis tief in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein eine strikte Rassentrennung bei der Stadtplanung. Danach isolierten die Darlehens- praxis der Banken und „sozialer Wohnungsbau“ die afro-amerikanische Community.
Welche Schlussfolgerung wurde daraus gezogen? Die sozialen Konflikte mit verschärfter Polizeipräsenz unter Kontrolle zu halten, ein politisches Armutszeugnis für die Demokratische Partei. Seit Ende der sechziger Jahre sitzen in Baltimore ausschließlich ihre Bürgermeister im Rathaus.
Die vorläufige Befriedung ist nun der Staatsanwältin von Baltimore zu verdanken. Sie hat Anklage erhoben gegen die sechs an der Festnahme von Freddie Gray beteiligten Polizisten, fünf Männer, eine Frau, drei weiß, drei schwarz. Die Anklage erfüllt wesentliche Forderungen der Demonstranten und Steinewerfer. Der Gouverneur von Maryland hat den Sonntag zum Tag des Friedens und des Betens erklärt.
„Wenn unsere Gesellschaft das Problem wirklich lösen wollte, könnten wir das tun“, sagte Präsident Barack Obama anlässlich der Ausschreitungen in Baltimore. „Aber das würde erfordern, dass jeder sagt, das ist wichtig – das ist bedeutend.“ Da hat er eindeutig recht. In seinen sechs Jahren im Weißen Haus hatte man freilich nicht den Eindruck, dass ihn die eklatante wirtschaftliche Ungleichheit umtreibt. Die ganz unten haben kaum eine Stimme in seiner Partei. Der Aufstand von Baltimore hat zwar Aufmerksamkeit erregt, aber die ihn auslösenden Zustände vielerorts in den USA bleiben, wie sie sind. Die Armut ist erheblich gewachsen in der Ära Obama.
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