Alone against Obama

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Allein gegen Obama

Der Enthüllungsjournalist Seymour Hersh bezichtigt den US-Präsidenten der Lüge: Die Tötung Osama bin Ladens sei ganz anders abgelaufen als geschildert. Wer hat recht?

Seymour Hersh steckt fest. Der Starreporter steht im Stau, kommt einfach nicht mehr zurück nach Washington. Er war am Morgen nach Virginia zum Golfspielen aufgebrochen. Er habe einfach einmal rausgemusst, sagt er am Telefon. Seit einer Woche nun schon wird ihm vorgeworfen, dass er mit seiner Story über das angeblich wahre Ende von Osama bin Laden eine unplausible, ja absurde Verschwörungstheorie in die Welt gesetzt habe.

Hersh zufolge war der Al-Kaida-Chef in Pakistan nicht im Rahmen einer riskanten Kommandoaktion amerikanischer Spezialkräfte getötet worden, wie das Weiße Haus behauptet. Die nächtliche Einnahme des Anwesens in Abbottabad sei vielmehr das Ergebnis einer einträchtigen Zusammenarbeit amerikanischer und pakistanischer Geheimdienste gewesen. Einfacher ausgedrückt: Wir haben den Fuchs gefangen, sagte Obama. Nein, ihr habt den Fuchs in der Falle erschossen, sagt Hersh.

Hat Barack Obama gelogen? Oder irrt sich Seymour Hersh? In beiden Fällen geht es um amerikanische Institutionen.

Seymour Hersh, 78, ist der wichtigste Enthüllungsjournalist der USA. Seine Berichte über das Massaker von My Lai im Vietnamkrieg (1968) und den Folterskandal von Abu Ghraib im Irak (2004) haben das Selbstbild Amerikas als eines wohlwollenden Imperiums des Guten, das für Freiheit und Menschenrechte kämpft, erschüttert. Hersh ist nicht irgendein Verschwörungstheoretiker. Er hat seit den sechziger Jahren wirkliche Verschwörungen aufgedeckt.

Nun will Hersh in jahrelanger Recherchearbeit herausgefunden haben, dass die Amerikaner von bin Ladens Aufenthaltsort in Abbottabad nicht, wie behauptet, durch die detektivische Verfolgung seines Kuriers erfuhren, sondern durch einen pakistanischen Überläufer. Auf amerikanischen Druck soll Pakistan bin Ladens Tötung durch ein US-Spezialkommando erlaubt haben. Allerdings sollte der Tod des Terrorchefs laut Absprache eine Weile geheim gehalten und schließlich als Folge eines Drohnenangriffs in Afghanistan verkauft werden. Dann jedoch, bei der Kommandoaktion am 2. Mai 2011, stürzte einer der Helikopter der Navy Seals ab, und das Weiße Haus habe fürchten müssen, die geplante Cover-up-Aktion nicht durchhalten zu können. So trat Präsident Obama noch in der Nacht an die Weltöffentlichkeit – um sie laut Hersh nach Strich und Faden zu belügen: ein gewagter Spezialeinsatz nach Monaten geheimdienstlicher Ermittlung; bin Laden tot nach Feuergefecht; sofort auf hoher See nach islamischem Ritus bestattet; umfangreiche Unterlagen von Al-Kaida gesichert …

In den folgenden Tagen ergänzte das Weiße Haus die Geschichte mit weiteren Details, die sich teilweise widersprachen. Doch nach Hersh sind nicht Einzelheiten unstimmig, sondern ist der Kern der Geschichte erfunden. Wieder einmal zeige sich, schreibt Hersh in dem Artikel The Killing of Osama bin Laden, der in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift London Review of Books erscheint, “dass Lügen von höchster Stelle aus der Modus Operandi der amerikanischen Außenpolitik bleibt, flankiert von geheimen Gefängnissen, Drohnenattacken und Spezialkräften”.

Nun ist besonders nach dem 11. September 2001 von höchster amerikanischer Stelle so viel gelogen worden – über Massenvernichtungswaffen und Al-Kaida-Verbindungen Saddam Husseins –, dass man amerikanischen Regierungen alle möglichen Manipulationen zutrauen kann. Allerdings heißt das im Umkehrschluss nicht, dass Hershs Version schon darum richtig ist, weil sie in allem das Gegenteil von dem ist, was die Regierung behauptet.

Cameron Munter war der US-Botschafter in Pakistan, als Osama bin Laden getötet wurde. Der ZEIT sagt er: “Ich stimme Hersh nicht zu. Ich habe weder je einen Beweis dafür gesehen, dass die pakistanischen Behörden wussten, dass bin Laden in Abbottabad war, noch dafür, dass sie vorher über die Stürmung seines Hauses informiert waren.”

Mit Abwehrreaktionen wie dieser von Regierungsseite hatte Hersh gerechnet. Nicht aber damit, dass sich auch die Gesamtheit der amerikanischen Medien kritisch auf ihn stürzen würde. Hersh, so schallt es ihm aus Zeitungen, Fernsehsendungen und Blogs entgegen, habe außer einer anonymen Hauptquelle, einem pensionierten amerikanischen Geheimdienstler, keinen stichhaltigen Beweis für seine Version der Ereignisse. Außerdem wimmele es in seiner Darstellung von unplausiblen Einzelheiten. So sollen etwa die Spezialkräfte, als sie in bin Ladens Schlafzimmer gestürmt seien, den Terrorchef “in Fetzen geschossen” haben und seine Einzelteile später über dem Hindukusch aus dem Hubschrauber geworfen haben.

Aber: Wie viel Zeit und Munition selbst aus Armeegewehren würde es kosten, einen Menschen “in Fetzen” zu schießen? Und: Warum sollten Soldaten die Überreste des meistgesuchten Mannes der Welt aus der Luft entsorgen, statt ihn identifizieren zu lassen? Wozu überhaupt die ganze Aktion, wenn es einen Deal zwischen Pakistanern und CIA gab? Welche Beweise hat Hersh für seine abenteuerliche Version?

“Beweise!” Hersh ist hörbar genervt von solchen Fragen. “Nein, ich habe kein Dokument, das das alles belegt”, sagt er der ZEIT. “Wenn Journalisten nur dann berichten könnten, wenn sie Dokumente haben, dann könnten wir verdammt wenig schreiben!”

Sicher ist: Eine Geschichte wie die, die Hersh jetzt erzählt, kann besonders gut im Verhältnis zwischen Amerika und Pakistan gedeihen. Es ist ein paradoxes, pathologisches Verhältnis: extrem intensiv, aber ohne jedes Vertrauen. Es geht zurück auf die Jahre nach 1979, als der pakistanische Geheimdienst ISI im Auftrag und mit dem Geld der Vereinigten Staaten den Guerillakampf der islamistischen Mudschahedin gegen die sowjetischen Besatzer in Afghanistan organisierte. Hier nahm der Radikalismus Gestalt an, der sich am 11. September 2001 gegen Amerika selbst richten sollte. Nach den Anschlägen auf New York und Washington verlangten die USA von Islamabad volle Kooperation im Antiterrorkampf. Gleichzeitig wussten sie nur zu genau, dass der ISI die Brücken zu den Militanten nicht wirklich abgebrochen hatte.

Die Pakistaner sahen die Unaufrichtigkeit auf der anderen Seite: bei einem Westen, der den islamischen Radikalismus erst benutzt hatte und dann nichts mehr davon wissen wollte. “Die Welt”, sagt Shah Mahmood Qureshi, der von 2008 bis Anfang 2011 pakistanischer Außenminister war, der ZEIT, “hat sich abgewandt, und wir hatten diese heiße Kartoffel in der Hand.”

Stand der Al-Kaida-Gründer in Abbottabad, wie Hersh es darstellt, unter der Aufsicht des ISI? Bin Laden muss in Pakistan “irgendein unterstützendes Netzwerk” gehabt haben, wie Husain Haqqani sich ausdrückt, der zum Zeitpunkt der Tötung pakistanischer Botschafter in Washington war. Haqqani legt sich nicht fest, ob die Hilfe für bin Laden staatlich oder privat war. Was die mögliche Komplizenschaft von Staat und Geheimdienst bei der Unterbringung des Al-Kaida-Patriarchen angeht, sind verschiedene Grade von Verwicklung denkbar. Selbst wenn die pakistanische Führung über den Verbleib des Top-Terroristen nicht Bescheid wusste, kann sie bewusst nachlässig gewesen sein. Nach 9/11 habe es “keine Ernsthaftigkeit bei der Suche nach Osama gegeben”, bemerkt der pensionierte Drei-Sterne-General Talat Masood. “Was hätten sie denn mit ihm tun sollen, wenn sie ihn gefunden hätten?”, fragt Masood. Ihn den Amerikanern ausliefern, die in Pakistan verhasst waren, während bin Laden bei vielen im Volk geradezu als Held, als islamischer Widerstandskämpfer galt? Es war bequemer, ihn nicht zu finden.

Pakistan ist ein Schattenreich, in dem die Dinge nicht so sind, wie sie aussehen, und wenn sie einmal doch so sein sollten, glaubt es keiner. Wer mit dem Plausiblen nicht zufrieden ist, kann sich hier immer eine Verschwörungstheorie erzählen lassen.

Ist Hersh ein Opfer dieses Schattenreiches und seiner eigenen Skepsis geworden, einer Skepsis, für die ihm diverse Regierungen über die Jahrzehnte immer wieder reichlich Gründe geliefert haben? Hersh hat sich in den letzten 50 Jahren ein Netzwerk aus Informanten aufgebaut, das ihm eine Art Gegenwirklichkeit zu der des Weißen Hauses lieferte. Für die Bin-Laden-Geschichte habe er mit Quellen geredet, die er seit den siebziger, achtziger Jahren kenne, sagt er. Kann das Vertrauen eines erfahrenen Reporters wie Seymour Hersh in eine solche Gegenwirklichkeit zu weitreichend sein? Kann Skepsis in Verschwörungsdenken kippen?

Für Hersh sind das die falschen Fragen. Die richtige Frage lautet aus seiner Sicht noch immer: Warum gräbt keiner weiter und tut das, was Journalisten gefälligst tun sollten?

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