Is America’s Surveillance State Coming to an End?

<--

Ist der Überwachungsstaat USA am Ende?

Die anlasslose Massenüberwachung von Telefonen innerhalb der USA könnte schon am 1. Juni ersatzlos gestrichen werden. Ausgerechnet republikanische Politiker reden nun Überwachungskritikern das Wort. Ein Gezeitenwandel?

San Francisco – Rand Paul ist nicht gerade als „liberales Weichei“ bekannt. Und er ist nicht zimperlich, wenn es darum geht, amerikanische Interessen in der Welt durchzusetzen. Aber vergangene Woche machte sich der republikanische Senator aus Kentucky und mögliche Präsidentschaftskandidat einen Namen als Vorreiter der Datenschützer und Bürgerrechtler. „Ich werde alles menschenmögliche machen, um eine Verlängerung des Patriot Acts zu verhindern“, erklärte der 52-jährige gegenüber dem Nachrichtensender CNN, und er hielt sein Wort. Am Samstag, nach dramatischen Beratungen, politischem Geschacher im Hintergrund und einer fast elfstündigen Rede von Paul, ging der Senat auseinander, ohne den Patriot Act oder sein Nachfolgegesetz „Freedom Act“ zu ratifizieren. Die anlasslose Massenüberwachung amerikanischer Telefone steht vor dem Ende. Und im Schlepptau müssen vielleicht bald auch eine Menge anderer Programme stillgelegt werden. Statt der benötigten 60 Stimmen für das leicht modifizierte und in „Freedom Act“ umbenannte Gesetz kamen nur 57 zusammen.

Und Paul will nicht nachgeben und macht Front für das letzte Gefecht. Am kommenden Sonntag wird der Senat in einer Art Notsitzung noch einmal zusammenkommen, um eine Lösung für das Problem zu finden. „Mit eurer Hilfe werden wir die illegale Überwachung ein für allem Mal beenden“, twitterte er an seine Parteifreunde.

Nichts hat diesmal geklappt. Anders als von einer Handvoll mächtiger republikanischer Senatoren bis zum Schluss erhofft, konnte das Überwachungsgesetz „Patriots Act“ nicht ohne jede Änderung verlängert werden. Es ermächtigt den US-Geheimdienst unter anderem dazu, Ausgangs- und Zielnummer jedes Telefongesprächs innerhalb der USA festzuhalten und auszuwerten. Aber nur bis zum 31. Mai 2015.

Die vom Barack Obama unterstütze und weichgespülte Version des Gesetzes, der Freedom Act, fiel ebenfalls durch. Sie sieht eine Modifizierung der „Section 215“ vor, die als Rechtfertigung der Massenüberwachung gilt und mittlerweile von einem hochrangigen Berufungsgericht als verfassungswidrig befunden wurde. Der Freedom Act hätte die Daten weiter gesammelt, aber in den Computern der Telefongesellschaften gelassen. Verbindungsdaten bekannter Nummern mit terroristischem Hintergrund hätten einzeln angefragt werden müssen. Die mächtige Bürgerrechtsorganisation EFF hatte den Freedom Act lange unterstützt, ihre Meinung nach dem Urteil des Berufungsgerichts aber geändert.

Dann scheiterte Samstagnacht auch noch der verzweifelte Versuch des Fraktionschefs der Republikaner, Mitch McConnell, eine schnell zusammengeschusterte Verlängerung des alten Gesetzes für zwei Monate durchzupeitschen. Nun herrscht Ratlosigkeit. Plötzlich steht ganz unspektakulär nach jahrelangem Streit das Ende der Überwachungsprogramme vor der Tür, wenn nicht am Sonntag ein politisches Wunder geschieht. In der NSA beginnt man bereits damit, die Anlagen herunterzufahren, um im Notfall pünktlich um Mitternacht 31. Mai den Stecker ziehen zu können.

NSA spaltet Parteien und bringt ungekannte Schulterschlüsse

Edward Snowden mischte sich aus dem fernen Moskau per Live-Chat auf dem Webdienst Reddit ein. „Das ist ein dramatischer Wandel verglichen mit der Praxis von vor wenigen Jahren, als neue Überwachungsgesetze ohne jede ernsthafte Diskussion oder Opposition verabschiedet wurden. Was immer man von Rand Paul oder seiner Politik halten mag“, schrieb der Mann, der die ganze Diskussion mit seinen Enthüllungen ins Rollen gebracht hatte, „er spricht jetzt über die Mehrheit der Amerikaner, die diese Form der Massenüberwachung nicht mehr akzeptieren wollen.“

Das NSA-Problem im Inland spaltet die möglichen Präsidentschaftskandidaten und provoziert früher völlig unmögliche Schulterschlüsse. Denn auf einmal ist Wahlkampfthema, was bislang hinter verschlossenen Türen besprochen wurde. Die Kandidaten müssen sich erklären. Die republikanischen Hardliner Rand Paul und Ted Cruz begrüßten die Entscheidung des Gerichts zur „Section 215“ als Sieg für hunderte Millionen unschuldiger amerikanischer Bürger. Die demokratische Wunschkandidatin Hillary Clinton forderte in einem Tweet ebenfalls nach dem Urteil Änderungen, während die republikanischen Präsidentschaftsanwärter Marco Rubio und Lindsey Graham Änderungen der Überwachungspraxis ablehnen.

Noch am Freitag vor den verlorenen Abstimmungen trat der mögliche Kandidat Jeb Bush als Befürworter der Überwachung ins Rampenlicht. Auf der „Southern Republican Leadership Conference“ verkündete er, es gäbe „überhaupt keine Beweise“, dass die Bürgerrechte von irgendjemandem durch den Patriots Act verletzt worden seien. Im Gegenteil: Das von seinem Bruder George W. Bush verantwortete Gesetz sei „definitiv“ Bestandteil einer zeitgemäßen Außenpolitik.

Doch das sehen immer mehr Politiker und Bürger in den USA mittlerweile anders. Besonders für Mitch McConnell, den republikanischen Senatsführer, steht viel auf dem Spiel. Bislang ist ihm gegen Barack Obama einfach nichts gelungen und jetzt verweigert ihm die Fraktion schon wieder den Gehorsam. Für die Demokraten ist die Situation ebenfalls unangenehm. Sie verlieren durch die handstreichartige Übernahme der Kompetenz im Datenschutz und bei Bürgerrechten durch die Republikaner einen ihrer zentralen Wahlkampfpunkte. Barack Obama hat es nie geschafft, die massiven Spionagegesetze der Bush-Ära auszuhebeln – oder er hat es nie gewollt. Jetzt machen es die Republikaner selbst. Ein Grund mehr für Barack Obamas ehemalige Außenministerin Hillary Clinton, sich von ihm zu distanzieren. Wenn es nicht schon zu spät ist.

About this publication