A Historic Conclusion

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Ein historischer Schlusspunkt

Es ist immer wieder erstaunlich, was das Oberste Gericht in Washington alles aus der amerikanischen Verfassung herausdestillieren kann – einem Text, der sich seit dem 18. Jahrhundert kaum verändert hat und doch die entscheidende Richtschnur zur Beurteilung von Fragen der Gegenwart ist. Noch vor 29 Jahren hielt es der Supreme Court für vereinbar mit der Verfassung, Bürger wegen ihrer gleichgeschlechtlichen Orientierung ins Gefängnis zu werfen. Nur eine Generation später urteilt derselbe Gerichtshof aufgrund derselben Verfassung, dass man homosexuellen Paaren nicht länger das Recht auf Ehe verweigern darf.

Der Fall illustriert, dass die Talarträger in der tempelartigen Anlage an der First Street die Verfassung nicht unbeeinflusst von gesellschaftlichen Strömungen auslegen. Denn was die Toleranz gegenüber Lesben und Schwulen betrifft, hat Amerika einen verblüffenden Wandel erlebt. Die Kriminalisierung homosexueller Akte, die 1986 noch die Hälfte der Teilstaaten in ihren Strafgesetzbüchern vorsahen, wurde 2003 landesweit aufgehoben. Wenig später erlaubte Massachusetts als erster Staat die gleichgeschlechtliche Ehe und eröffnete damit eine neue Front in diesem politischen Kampf. Noch 2008 bezeichnete sich Barack Obama aus opportunistischen Gründen als Gegner der Homo-Ehe, weil er dabei die überwältigende Mehrheit der Wähler hinter sich wusste. Heute heissen 60 Prozent der Amerikaner diese Form der Ehe gut, und 70 Prozent leben in Regionen, wo Schwule schon bisher heiraten durften.

Angesichts dieser Entwicklung wäre es absurd gewesen, hätte sich die Justiz weiter dagegen gestemmt. Aus liberaler Sicht ist es ohnehin unsinnig, in einem so fundamentalen Bereich wie Liebe und Partnerschaft einer Minderheit ohne rationale Gründe ein Recht zu verweigern, das die Mehrheit mit grösster Selbstverständlichkeit in Anspruch nimmt, und eine Diskriminierung zu verankern, mit der niemandem geholfen ist. Aber auch aus praktischen Gründen wäre es langfristig unhaltbar gewesen, homosexuelle Paare je nach ihrem Wohnort in den USA unterschiedlich zu behandeln. Das Urteil ist daher ein logischer Schlusspunkt in einer historischen Entwicklung – und es passt zu einem Land, das schon in seiner Geburtsstunde den «pursuit of happiness» als unveräusserliches Recht deklariert hat.

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