Parallel Societies

<--

Parallelgesellschaften

Nach Ferguson und Baltimore ist Barack Obama nicht gereist. In Charleston hält er nun eine Trauerrede, denn hier liegen die Dinge klar. Der Anschlag eint Schwarze und Weiße – die sonst nebeneinander her leben.

Es ist keine schöne Aufgabe, die Trauerrede für einen erschossenen Pastor zu halten. Für Barack Obama hat seine Reise an diesem Freitag nach Charleston dennoch etwas Befreiendes. Er war nicht nach Ferguson geflogen, wo die sogenannten Rassenproteste anfingen. In der vor allem von Schwarzen bewohnten, aber von Weißen regierten Vorstadt von Saint Louis wollte es der Präsident der Justiz überlassen, zu klären, warum ein weißer Polizist einen unbewaffneten Schwarzen erschoss. Obama fuhr auch nicht nach Baltimore, wo randalierende Afroamerikaner Brände gelegt und Polizisten attackiert hatten. In der darbenden Großstadt, eine Autostunde vom Weißen Haus entfernt, wollte er es nicht der schwarzen Führungsriege abnehmen, zwischen kriminellem Pack und aufbegehrender Jugend zu unterscheiden. In Charleston aber liegen die Dinge klar: Ein junger Weißer, überzeugt von der Überlegenheit seiner Rasse, hat neun Schwarze erschossen, die in der Bibel lasen.

Obama erinnerte danach an den Brandanschlag auf eine Schwarzen-Kirche in Birmingham, Alabama. Vier Mädchen waren dabei 1963 umgekommen. Der Präsident zitierte Martin Luther King: Man müsse sich nicht nur über die Mörder Gedanken machen, sondern auch „über das System, die Lebensart und die Philosophie, aus denen sie hervorgingen“. Vielen Konservativen, denen Obama zu hart mit Amerikas Geschichte ins Gericht geht, missfiel der historische Bezug. „System und Philosophie des institutionalisierten Rassismus“, schrieb die Zeitung „Wall Street Journal“, „existieren nicht mehr“; der Massenmord eines Einzeltäters sei unerklärlich, jedenfalls nicht Ausdruck eines amerikanischen Übels. Auch Obama hat die Schwarzen oft ermahnt, bei aller Wut den riesigen Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte nicht geringzuschätzen. Diese Woche stellte er allerdings fest, noch sei das Erbe von Sklaverei und Rassentrennung „Teil unserer DNA“.

Inwieweit rassistische Reflexe in den Köpfen vieler Amerikaner fortleben, ist schwer zu messen. Dass die Verhältnisse für die meisten Schwarzen nicht angetan sind, den „amerikanischen Traum“ in Erfüllung gehen zu lassen, zeigt die Statistik. Das durchschnittliche Reinvermögen einer schwarzen Familie beträgt nur 11.000 Dollar – ein Dreizehntel dessen, was weiße Durchschnittshaushalte besitzen. Schwarze Männer sind doppelt so oft arbeitslos. Wenn sich heutige Trends fortsetzen, dann wird jeder dritte zu Beginn des Jahrhunderts geborene Afroamerikaner mindestens einmal im Leben ins Gefängnis gesperrt, was nur jedem Siebzehnten seiner weißen Altersgenossen widerfahren dürfte. Nur dreizehn Prozent der Bevölkerung, aber vierzig Prozent der Häftlinge sind schwarz. Afroamerikaner werden härter bestraft. Weil so viele schwarze Männer jung an Krankheiten sterben, getötet werden oder eben inhaftiert sind, leben außerhalb der Gefängnisse anderthalb Millionen mehr schwarze Frauen zwischen 25 und 54 Jahren als Männer.

In anderen Bereichen aber verringert sich der Rückstand. Während vor vierzig Jahren noch fast jeder vierte Schwarze die Schule ohne Abschluss verließ, liegt die Abbrecherquote heute nur noch bei acht Prozent. Zwar wachsen immer noch viele schwarze Kinder ohne Väter auf. Doch schwarze Männer, die bei ihrer Familie bleiben, verbringen mehr Zeit als weiße Väter mit der Kinderbetreuung. Vielerorts hat sich eine solide schwarze Mittelklasse etabliert. Ihre hübschen Eigenheime mit Doppelgaragen gleichen denen der Weißen. Gemischte Viertel aber sind rar. Schwarzen Musikern, Fernsehstars oder Sportlern jubeln auch weiße Fans zu. Doch weniger als fünf Prozent der verheirateten Schwarzen gehen die Ehe mit einem weißen Partner ein. Generationen von Einwanderern mögen in Amerikas Schmelztiegel aufgegangen sein. Doch auch im sechsten Jahrzehnt nach Aufhebung der Rassendiskriminierung bilden Weiße und Schwarze Parallelgesellschaften. Man plaudert am Arbeitsplatz, aber besucht sich selten zu Hause. Man sieht dieselben Kinofilme, aber betet in verschiedenen Kirchen. Gemeinsam ist der schwarzen und der weißen Mittelklasse, dass sie sich vom Elend der schwarzen Unterschicht abschotten.

Obama sieht sich als wandelnde Wegmarke der amerikanischen Fortschrittsgeschichte. Zugleich weiß er, dass der bisweilen in Hass umschlagende Unmut über seine Politik auch auf rassistische Vorbehalte zurückgeht und diese verstärkt. Der schwarze Mann im Weißen Haus hat das Land weiter polarisiert, und die Wahrnehmung der Vorfälle von Ferguson bis Baltimore driftet weit auseinander. Der Massenmörder von Charleston aber hat das Gegenteil bewirkt: Er wollte einen Rassenkrieg anzetteln und erzeugte eine rassenübergreifende Betroffenheit, der nicht einmal die 154 Jahre alte Konföderiertenfahne standhielt. Beim ersten Sonntagsgottesdienst in der Emanuel-Kirche nach dem Massaker applaudierte die Gemeinde lange der Polizei. Deshalb kann Obama nach Charleston reisen und an den langen Weg erinnern, den Amerika hinter sich hat – und vor sich.

About this publication