Taking Twitter into Account

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Abrechnung auf Twitter

Twitter-Nutzer und amerikanische Ökonomen ziehen über die deutsche Regierung her. Jetzt hagelt es sogar Boykott-Aufrufe. Dafür gibt es zwei Gründe.

Nachmittags, so gegen 15 Uhr, ändert sich die Stimmung auf Twitter. Wenn Amerika aufwacht, wird Griechenland zum Thema. Dann rechnen die Amerikaner mit der Rettungspolitik Europas ab, mit den Reformauflagen und der Ablehnung des Schuldenschnitts. Jeder Tweet ein Nadelstich, alle zusammen bilden eine Phalanx der Spitzen. Je weiter sich die Situation in Griechenland zuspitzt, umso breiter wird die Phalanx. Am Dienstagmorgen wurde der Boykottaufruf gegen deutsche Produkte zum Trend.

Geht es nach der öffentlichen Diskussion auf Twitter, dann hatten die Regierungschefs beim Gipfel überhaupt keinen Grund für ihr Verhalten, außer vielleicht einer irrationalen deutschen Regelgläubigkeit.

Die Munition stammt von amerikanischen Ökonomen. Paul Krugman beschwert sich in seinem Blog über Deutschland, Joseph Stiglitz schreibt Aufrufe, und manche mischen direkt mit. „Die Eurozone ist ein verrücktes Haus: inkohärent, inkompetent und grausam“, twitterte Entwicklungsökonom Jeffrey Sachs, ein Held der Linken, am Sonntag während der Verhandlungen.

Der Widerspruch verstummt – warum?

Widerspruch gibt es kaum. Dabei sind Amerikas Ökonomen und ihre Ratschläge längst nicht über jeden Zweifel erhaben. Joseph Stiglitz beispielsweise applaudierte laut der Wirtschaftspolitik Venezuelas, das jetzt mit einer Hyperinflation kämpft.

Der Vergleich zwischen Venezuela und Griechenland mag hinken, allein: Darüber wird überhaupt nicht diskutiert. Nach und nach verstummen die Verteidiger von Europas Politik, am Montagabend während des Gipfels war kaum noch einer übrig. Es bleibt eine große Verständnislücke – und vielleicht eine große Fehleinschätzung. Psychologen wissen seit Jahrzehnten: Wo der Widerspruch wegfällt, regiert der so genannte „Groupthink“, und der ist meistens falsch.

Woher kommt das? Diese Einstimmigkeit hat zwei Gründe.

Die oft beschworene „Filterblase“ in sozialen Netzwerken gehört nicht dazu – schon längst ist etabliert, dass die Nutzer von sozialen Netzwerken normalerweise eher gegensätzlichen Meinungen ausgesetzt sind als Blog-Leser. Woran liegt es dann?

Sprachprobleme und Schweigespirale

Alles fängt damit an, dass die Verfechter von Reformauflagen selten in englischer Sprache schreiben. Von den Amerikanern werden nur ein paar Argumente wahrgenommen, die eine Handvoll deutscher Ökonomen und Publizisten gelegentlich als Gastbeitrag in einem angelsächsischen Medium unterbringen.

Danach greift ein altbekanntes Phänomen: die sogenannte „Schweigespirale“. Sie geht so: Wer sich mit seiner Meinung in der Minderheit fühlt, der verstummt eher. Immer mehr Leute verstummen, und es entsteht der Eindruck, alle seien einer Meinung. Dieses Phänomen gilt im Internet ebenso wie offline, das ist nachgewiesen.

Doch es bleibt nicht auf Amerika beschränkt. Gerade die intelligenten und kosmopolitischen Europäer verstehen die englischen Beiträge, die Blogs und die Tweets. Viele von ihnen fallen der Schweigespirale ebenfalls anheim. So kommt es, dass die Amerikaner die Europäer nicht verstehen. Und die Europäer selbst einander auch nicht.

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