“Das war zweifelsohne ein Mord” Wieder einmal tötete ein weißer US-Polizist einen Schwarzen. Diesmal erhob die Staatsanwaltschaft Mordanklage. Doch Amerika steht weiter vor der Frage: Ist es ein Land für alle seine Bürger?
Von Clemens Wergin , Washington
Im US-Bundesstaat Ohio muss sich ein Polizist wegen Mordes verantworten. Er hatte vor einer Woche einen Afroamerikaner in seinem Auto erschossen, als dieser sich weigerte auszusteigen.
Ein weiterer unbewaffneter Schwarzer, der von einem weißen Polizisten getötet wurde. Ein weiterer Polizeibericht über einen tragischen Todesfall, der die Tatsachen verdrehte. Und wieder einmal haben Videobilder, diesmal gedreht von der Bodycam des Polizisten, die Wahrheit ans Licht gebracht. Und erneut muss das weiße Amerika sich auseinandersetzen mit fast alltäglichen Gewalterfahrungen seiner schwarzen Mitbürger, ausgelöst durch seine Behörden.
Diesmal ist es in Cincinnati passiert, das im Jahr 2001 schon einmal Rassenunruhen erlebt hatte, nachdem ebenfalls ein unbewaffneter Schwarzer von Polizisten erschossen worden war. Nur diesmal haben die Behörden gleich durchgegriffen, nachdem die Videobilder von jenem 19. Juli gesichtet worden waren, an dem Samuel DuBose starb. Zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte von Hamilton County wurde Mordanklage gegen einen Polizisten erhoben. “Es war ein sinnloser, dämlicher Schuss”, sagte Staatsanwalt Joseph Deters am Mittwoch über das Vorgehen von Ray Tensing, der als Polizeibeamter bei der Universität von Cincinnati angestellt war und inzwischen gefeuert wurde.
Tensing habe DuBose absichtlich getötet, so Deters. “Dieses Büro hat wahrscheinlich um die 100 Schießereien untersucht, in die Polizisten verwickelt waren, und das ist das erste Mal, dass wir dachten: Das ist zweifelsohne ein Mord”, meinte Deters, dem sichtlich anzumerken war, wie aufgebracht er war. “So etwas passiert in den USA nicht, okay? Das passiert vielleicht in Afghanistan. Leute werden nicht erschossen wegen eines Verkehrsstopps.” Außer, wenn sie schwarz sind, vielleicht. Walter Scott etwa starb vor wenigen Monaten in North Carolina, nachdem er bei einem Routinestopp mit dem Auto angehalten worden war und davonlief. Die Schüsse trafen ihn aus erheblicher Entfernung in den Rücken.
Wer sich das Video der Konfrontation in Cincinnati anschaut, kann das Entsetzen verstehen, das Staatsanwalt Deters auf der Pressekonferenz zum Ausdruck brachte. Tensing hatte DuBose gestoppt, weil das Auto vorn kein Nummernschild aufwies, allerdings in einer Gegend, die eigentlich außerhalb des Sektors lag, den die Campusbeamten normalerweise patrouillieren dürfen. DuBose holte das Schild dann aus seinem Handschuhfach, musste aber zugeben, keinen Führerschein bei sich zu haben.
Eskalation binnen Sekunden
Was bis dahin wie eine Routineüberprüfung aussah, eskalierte aber innerhalb weniger Sekunden, als Tensing die Tür öffnen wollte und DuBose seinerseits den Schlüssel in die Zündung steckte und den Motor anließ, weil er der Meinung war, ohne gute Gründe angehalten worden zu sein. Entgegen dem, was Polizisten in der Ausbildung lernen – niemals mit der Hand durch das Autofenster in das gestoppte Auto zu greifen – tut Tensing genau das, um offenbar den Zündschlüssel zu ziehen.
Er ruft zwei Mal “Stopp!”, zieht seine Waffe und schießt DuBose in den Kopf. Kurz darauf berichtet er über Funk, von dem Auto mitgeschleift und fast überrollt worden zu sein. Tatsächlich hatte er jedoch schon vorher geschossen. Der Wagen rollte erst los, nachdem der tödlich verletzte DuBose die Kontrolle darüber verloren hatte.
Nach all den Todesfällen von Schwarzen durch meist weiße Polizeibeamte, die in den vergangenen Monaten bekannt wurden – von Ferguson über New York, North Carolina bis nach Baltimore und Cincinnati – ist es leicht, zum Zyniker zu werden und zu glauben, dass diese Dinge sich nie ändern werden und dass das Leben eines Schwarzen in den Augen mancher Gesetzeshüter tatsächlich weniger wert ist als das eines Weißen.
Viele Weiße sind ehrlich schockiert über das, was diese Videos zeigen; ich kenne aber wenige Afro-Amerikaner, die davon überrascht sind
Allerdings verstellt das den Blick darauf, dass die überwiegende Zahl von Schwarzen, die in den USA eines gewaltsamen Todes sterben, Opfer von Gewaltkriminalität sind, die in den meisten Fällen ebenfalls von Schwarzen ausgeübt wird. Zudem zwingen die zum Teil drastischen Videos der tödlichen Begegnungen von Schwarzen mit weißen Polizisten die weißen Amerikaner zu einer Art Seelenerforschung.
Viele hatten nach der Wahl von Barack Obama zum ersten schwarzen Präsidenten geglaubt, die Rassenfrage sei nun endlich überwunden. Nun werden sie damit konfrontiert, wie viel strukturellen Rassismus es in Teilen der Gesellschaft offenbar immer noch gibt. “Viele Weiße sind ehrlich schockiert über das, was diese Videos zeigen; ich kenne aber wenige Afroamerikaner, die davon überrascht sind”, sagt Paul Butler, Juraprofessor an der Georgetown University in Washington, der “New York Times”. “Die Videos sind eindeutige Beweise, sowohl buchstäblich, weil sie sehr eindringlich sind, was die Leute aufbringt, aber auch im übertragenen Sinne, weil die Leute ihren eigenen Augen glauben.”
Es ist eben etwas anderes, ob Schwarze aus unterprivilegierten Vierteln nur über ihre Gewalterfahrungen durch die Polizei berichten, oder ob diese Begegnungen auch tatsächlich dokumentiert sind und weiße Amerikaner mit den schmerzlichen Realitäten konfrontieren, denen sich ihre schwarzen Mitbürger gegenübersehen. Bisher war die Grundannahme des weißen Amerika stets, dass Polizeibeamte in solchen Situationen schon einen guten Grund gehabt haben werden, zur Waffe zu greifen. Dieses Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden ist nun deutlich erschüttert. Zumal sich in vielen Fällen erwiesen hat, dass Polizeiberichte über die Todesfälle oft eine grob verfälschte Version der Ereignisse präsentierten und Beamte sich gegenseitig decken.
Das Land einer weißen Mehrheit
Die amerikanische Gesellschaft durchlebt gerade einen Lernprozess. Sie muss erfahren, dass das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß immer noch eine offene Wunde ist. Und viele Weiße sind erstaunt darüber, welchen Lebensrealitäten sich die Schwarzen im Land fast ein halbes Jahrhundert nach der Bürgerrechtsbewegung gegenübersehen. Sie lesen Debattenbeiträge in den Zeitungen, in denen schwarze Eltern selbst aus der Mittelschicht beschreiben, wie sie ihren heranwachsenden Söhnen Überlebensstrategien im Umgang mit Polizeibeamten beibringen, weil eine dumme Bemerkung oder eine falsche Bewegung katastrophale Folgen haben könnte. Und sie lesen in zuweilen herzzerreißenden Essays, wie schwarze Eltern versuchen, ihren Kindern beizubringen, warum Amerika noch immer nicht “ihr” Land ist in derselben Art, wie es das Land der weißen Mehrheit ist. Und warum es sich dennoch lohnt, weiter darum zu kämpfen, dass es einmal anders sein möge.
In einem Facebook-Video schildert Will Stack seine Erfahrungen mit der amerikanischen Polizei – und wird in den Netzwerken in den USA über Nacht berühmt.
Appell
Der schwarze Intellektuelle und “Atlantic”-Autor Ta-Nehisi Coates etwa hat in einem langen Brief an seinen Sohn jenen Moment beschrieben, als die Jury in Ferguson beschlossen hatte, keine Anklage gegen den Polizeibeamten zu erheben, der Michael Brown getötet hatte. “Du bist bis elf Uhr abends aufgeblieben und hast auf die Verkündigung der Jury zur Anklageerhebung gewartet”, schreibt Coates an seinen Sohn. Als sie kam und keine Anklage erhoben wurde, ging sein Sohn in sein Zimmer und weinte. “Ich bin fünf Minuten später zu Dir gekommen und ich habe Dich nicht umarmt, ich habe Dich nicht getröstet, weil ich glaubte es sei falsch, Dich zu trösten. Ich habe Dir nicht gesagt, dass es gut werden wird, weil ich nie daran geglaubt habe, dass es gut werden würde. Was ich Dir gesagt habe, ist das, was meine Großeltern mir versucht haben zu sagen: dass dies Dein Land ist, dass dies Deine Welt ist, dass dies Dein Körper ist und dass Du einen Weg finden musst, in allen von ihnen zu leben.”
Die amerikanische Gesellschaft wirft gerade einen neuen Blick auf die Rassenverhältnisse im Land. Und dabei sind in den vergangenen Monaten immerhin kleine Fortschritte sichtbar geworden. So haben die Behörden etwa in North Charleston oder nun in Cincinnati weit schneller und transparenter reagiert als einst in Ferguson, und sie haben versucht, den Eindruck zu vermeiden, es gebe eine Art omertà innerhalb der Strafverfolgungsbehörden, die gewalttätige Polizisten deckt. Ob es im Sinne von Ta-Nehisi Coates je “gut werden wird”, weiß man nicht. Aber es ist zumindest ein Anfang.
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