Breach of Trust: Part 1

<--

Der Vertrauensbruch

US-Spionage in Deutschland: Was wusste Berlin wirklich? Wie eng kooperierte der BND? VON MARTIN KLINGST UND MATTHIAS NASS

1. Amerikanische Zusagen? Denkste

Am Montag, dem 5. August 2013, fährt auf dem aufwendig gesicherten Gelände der National Security Agency (NSA) in Fort Meade eine hochrangige Delegation aus Deutschland vor. Die vier Männer sind in diskreter Mission unterwegs. Kurz zuvor hat der ehemalige NSA-Mitarbeiter Edward Snowden die weltumspannende Überwachungspraxis des US-Geheimdienstes enthüllt. Jetzt wollen die Deutschen wissen, was an Informationen über Spionage in ihrem Land zu erwarten ist.

Die Herren, die sich auf den Weg ins NSA-Hauptquartier gemacht haben, sind Klaus-Dieter Fritsche, damals Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Gerhard Schindler, Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, und Günter Heiß, Leiter der Abteilung VI im Bundeskanzleramt, zuständig für die Koordination der Geheimdienste. Fritsche leitet die Delegation.

Die Enthüllungen von Snowden und WikiLeaks; das abgehörte Kanzlerinnen-Handy; der BND-CIA-Doppelagent; Auftragsarbeiten des BND für die NSA; das Abhören von Ministern; keine Ermittlungen gegen NSA-Spione, aber gegen zwei deutsche Blogger, die Geheimdokumente veröffentlicht haben – seit zwei Jahren jagt eine Meldung die andere. Spione werden abberufen und Botschafter einbestellt, Berater reisen zu Krisentreffen über den Atlantik. Doch keiner der Beteiligten sagt die ganze Wahrheit.

Von welchen amerikanischen Aktivitäten wussten die Deutschen? Haben Bundesregierung und BND die Öffentlichkeit über das Ausmaß ihrer Kooperation hinters Licht geführt? Die ZEIT ist diesen Fragen nachgegangen. Sie hat mit Mitarbeitern des Kanzleramtes und des Weißen Hauses gesprochen, mit ehemaligen Präsidenten von BND, NSA und CIA, mit Abgeordneten und Botschaftern. Mancher war nur bereit, mit uns zu reden, wenn wir ihm Anonymität zusicherten.

Herausgekommen ist die Geschichte einer Vertrauenskrise und fundamentaler Missverständnisse. In einem Moment, da Deutschland und Amerika gemeinsam gefordert sind – im Umgang mit Russland und im Kampf gegen den “Islamischen Staat” –, offenbart sich ein schwerer Gegensatz.

In Fort Meade im Bundesstaat Maryland, unweit der Hauptstadt Washington, sind die vier deutschen Gesandten in jenem August 2013 mit NSA-Direktor Keith Alexander verabredet. Der muss sich gerade vor einer entsetzten amerikanischen Öffentlichkeit rechtfertigen: Hört die NSA tatsächlich die Telefone aller US-Bürger ab, liest sie alle Mails mit?

Auch der Kongress verlangt Aufklärung vom NSA-Chef und von dessen leitenden Mitarbeitern. Immer wieder werden sie kurzfristig vor die Geheimdienstausschüsse von Senat und Repräsentantenhaus zitiert; dann jagen sie in ihren schwarzen SUVs über den Highway 295 nach Washington.

Obwohl sich die Termine in seinem Kalender drängen, nimmt sich Alexander Zeit für seine Besucher. Deutschland ist ein enger Verbündeter der USA; die Empörung, die Snowdens Enthüllungen jenseits des Atlantiks ausgelöst haben, sind im NSA-Hauptquartier registriert worden.

Das Gespräch dreht sich zunächst um die Frage, ob die Amerikaner deutsche Unternehmen ausspioniert haben. Vielleicht, sinniert Alexander, könne man ein Abkommen schließen, das die Sorgen der Deutschen ausräume.

Die Besucher haben an diesem Tag noch einen zweiten Termin. Von Fort Meade geht es weiter nach Tysons Corner in der Nähe des Dulles International Airport. Dort residiert James Clapper, der Director of National Intelligence. Clapper ist Amerikas oberster Nachrichtendienstchef, er koordiniert die Arbeit von NSA, CIA und den übrigen vierzehn US-Geheimdiensten. Clapper unterbreitet seinen Besuchern an diesem Tag einen Vorschlag, der sie in Erstaunen versetzt und der wenig später in Berlin Furore machen wird. Die Amerikaner, berichten die vier nach ihrer Rückkehr, wollten der Bundesregierung ein “No-Spy-Abkommen” anbieten – eine Vereinbarung, wonach Deutsche und Amerikaner einander nicht ausspähen. Die vier sind überrascht. Sie kamen in der Erwartung, dass die Amerikaner ihnen sagen würden, auf welche Enthüllungen sich die Bundesregierung noch einzustellen habe. Aber auf eine solche Offerte sind sie nicht vorbereitet.

Warum bietet Clapper ausgerechnet den Deutschen ein No-Spy-Abkommen an, eine Vereinbarung, die Amerika mit keinem Land der Welt hat? Schlechtes Gewissen, heißt es im Kanzleramt. Überzeugend ist das nicht. Denn am eigentlichen Widerspruch hat sich nichts geändert: Einerseits arbeiten Washington und Berlin enger zusammen denn je; andererseits ließ die US-Regierung das Handy der Kanzlerin abhören. Einerseits tauschen die Nachrichtendienste Tag für Tag ihr Wissen aus und kooperieren beim Ausspähen Dritter; andererseits trauen sie einander nicht über den Weg. Freunde darf man nicht abhören, empören sich die Deutschen. Seid nicht so naiv, spionieren gehört zum Geschäft, antworten die Amerikaner.

Einen Moment lang, nach den Snowden-Enthüllungen im Sommer 2013, hatte die Bundesregierung den Eindruck erweckt, der Gegensatz lasse sich überwinden. Die Amerikaner, suggerierte sie, wollten mit einem No-Spy-Abkommen eine Vertrauensbasis schaffen. Die Bundesregierung stützte sich dabei auf die Berichte der vier Washington-Reisenden. Mitten im Wahlkampf waren diese Nachrichten im Kanzleramt hochwillkommen.

Doch in Washington wird die Existenz eines Versprechens, die Deutschen nicht mehr ausspionieren zu wollen, bestritten. “Deutschland hat da etwas durcheinandergebracht”, sagt ein Berater von Präsident Obama der ZEIT. “Weichere Botschaften”, wie sie vielleicht die Nachrichtendienste übermittelt hätten, seien überinterpretiert worden. Es habe nie einen Zweifel geben können, dass allein das Weiße Haus die letzte Entscheidung darüber treffe, ob Deutschland von amerikanischer Spionage künftig verschont werden solle. Und das Weiße Haus wollte von einem No-Spy-Abkommen nichts wissen.

Seite 2/4: Die Deutschen gehören nicht zur Familie

Auf ein mögliches Veto des Weißen Hauses gegen ein solches Abkommen hatte schon US-Geheimdienstkoordinator Clapper die Besucher aus Deutschland vorbereitet. Die hatten auch diese Botschaft in Berlin übermittelt, aber das Kanzleramt stellte da die Ohren lieber auf Durchzug.

Nach der Bundestagswahl reiste Merkels außenpolitischer Berater Christoph Heusgen nach Washington. Im Oktober 2013 sollte er eine endgültige Klärung herbeiführen. Susan Rice, Obamas Nationale Sicherheitsberaterin, redete nicht drum herum: Eine Vereinbarung, die so weit gehe, komme nicht infrage. Ein No-Spy-Abkommen gebe es nicht einmal unter den Five Eyes, jenen fünf angloamerikanischen Staaten, die seit dem Zweiten Weltkrieg bei der Spionage auf das Engste zusammenarbeiten und weitgehend auf gegenseitiges Ausspionieren verzichten: USA, Kanada, Großbritannien, Australien und Neuseeland.

Damit stand nun auch für die Bundesregierung fest: Eine verbindliche Zusage der Amerikaner, sich auf deutschem Boden nur nach deutschem Recht zu verhalten, würde es nicht geben. Berlin hatte sich einen Vertrauensbeweis erhofft, doch Washington traut den deutschen Freunden nicht.

2. Die Deutschen gehören nicht zur Familie

Gleichwohl war die Hoffnung auf ein Entgegenkommen der Amerikaner nicht aus der Luft gegriffen. Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 interessierte sich Washington für eine engere Partnerschaft mit den deutschen Geheimdiensten. Wie die ZEIT von ehemaligen Mitarbeitern des Weißen Hauses erfuhr, hatte die US-Regierung überlegt, den Deutschen eine besondere Zusammenarbeit anzubieten: Diese sollte jener der Five Eyes ähneln. Die geheime Offerte – die Rede war von einem bilateralen Vertrag, einem “Five Eyes Minus” – kam aus dem Umkreis von Condoleezza Rice, der damaligen Nationalen Sicherheitsberaterin und späteren Außenministerin von George W. Bush.

Doch das Angebot wurde bald wieder fallen gelassen. Auf beiden Seiten überwog der Argwohn. Bundeskanzler Gerhard Schröder befürchtete, Berlin könne in schmutzige Operationen verstrickt werden. Und in Washington sank Deutschlands Ansehen wegen Schröders Nein zum Irakkrieg auf den Nullpunkt. Auf keinen Fall wollte die US-Regierung nun aufs Abhören verzichten – im Gegenteil, sie wollte jetzt erst recht wissen, was in Berlin gedacht wurde.

Viel geändert hat sich daran bis heute nicht. Michael Hayden, ehemaliger Direktor von NSA und CIA, spricht es offen aus: Deutschland genieße einfach nicht genug Vertrauen. “Es sind die Kultur, die Sprache, die historischen Wurzeln, aber eben auch die oft gleiche politische Einschätzung, die alle Five Eyes miteinander verbinden.” Deutschland bleibe wegen der Gegnerschaft im Zweiten Weltkrieg und der heutigen pazifistischen Grundstimmung immer noch ein wenig fremd. Der deutsche Botschafter in Washington, Peter Wittig, bringt es auf den Punkt: “So eng unsere Partnerschaft ist, letztlich bleibt ein Unterschied zu den Briten: Wir gehören nicht zur Familie.”

Hinzu kommt: Für Washington sind die deutschen Geheimdienste einfach an zu enge Ketten gelegt. “Der BND war für mich ein unglaublich schwieriger Partner”, sagt Hayden. “Ich wollte, bitte schön, nicht, dass er deutsches Recht bricht; aber er brauchte ewig, um mir mitzuteilen, was ging oder nicht ging.”

3. Wer interessant ist, wird ausspioniert

Michael Hayden hält deutsche Politiker bis heute für ein legitimes Ziel von Ausspähung. Der frühere Luftwaffengeneral war von 1999 bis 2005 Direktor der NSA, von 2006 bis 2009 stand er an der Spitze der CIA. Jetzt arbeitet der Pensionär für ein privates Sicherheitsunternehmen.

Auch Hayden wollte in seiner Amtszeit eine engere Verzahnung mit dem BND. Aber niemals um den Preis, die Deutschen nicht mehr abzuhören. “Auch wenn Deutschland ein noch so guter und wichtiger Freund ist, sind unsere Interessen nicht immer deckungsgleich. Es gibt Zeiten, da weicht die deutsche Politik von dem ab, was die Amerikaner bevorzugen würden. Kenntnisse darüber sind für Amerikas Regierung nützlich.” Und er stellt fest: Obamas Versprechen aus dem Jahr 2013, Merkels Handy nicht mehr abzuhören, habe “nur für diese Kanzlerin gegolten. Ich wiederhole, nur für diese Kanzlerin.” Spionage ist für Hayden international akzeptierte Normalität. Dabei zwischen Freund und Feind zu unterscheiden mache nicht viel Sinn. “Die NSA ist keine Strafverfolgungsbehörde. Wir spionieren nicht die Bösen aus, wir spionieren die Interessanten aus.”

Hayden erzählt die Geschichte von dem Präsidentschaftskandidaten Obama und dessen Blackberry. Der habe seinen ganzen Wahlkampf mit dem Gerät organisiert. Nach der Wahl seien Geheimdienstbeamte zu Obama gegangen und hätten gesagt: Keinen Blackberry mehr! Kommt nicht infrage, habe sich der gewehrt, meinen Blackberry behalte ich. “Wir haben dann ein paar Sachen an seinem Blackberry verändert, aber wir konnten ihn nicht wasserdicht machen, das geht einfach nicht.”

“Was wir dem kurz darauf mächtigsten Mann des mächtigsten Landes der Erde klarmachen wollten, ist dies”, fährt Hayden fort: “Wenn er in der eigenen Hauptstadt sein Handy benutzt, dann lesen jede Menge ausländische Geheimdienste alle seine E-Mails und SMS mit und horchen seine Telefonate ab.”

Aufgabe der Nachrichtendienste sei es eben, nützliche Informationen zu sammeln. Ansonsten gelte die Regel: Lass dich nicht erwischen.

Aber was ist eine nützliche Information? Hayden nennt als Beispiel die Wochen vor dem Irakkrieg 2003, als der UN-Sicherheitsrat darüber entscheiden musste, ob es für den bevorstehenden Waffengang ein Mandat der Vereinten Nationen geben solle. Wie eine damalige Übersetzerin des britischen Abhördienstes GCHQ enthüllte, bat die NSA seinerzeit die Londoner Kollegen, bei der Ausspähung der Sicherheitsratsmitglieder zu helfen. Wie würden die abstimmen, hätten die Amerikaner wissen wollen. “Keine dieser Regierungen war ein Feind”, sagt Hayden. “Trotzdem war es ein legitimes Interesse meiner Regierung, zu wissen, wie sie votieren würden. Es geht einfach um eine Information, die ich brauche und die ich auf anderem Weg nicht erhalten kann.”

Und manchmal erwischt es dabei eben auch die Deutschen.

4. Das Kanzleramt wusste sehr wohl Bescheid

Für Hayden ist das Spionage-Geschäft eine reine Kosten-Nutzen-Rechnung. “Ich entschuldige mich nicht für das Ausspähen der Deutschen – falls es geschah”, lacht er. “Aber ich entschuldige mich dafür, dass es nicht geheim gehalten wurde und dass wir die politischen Kosten einer Enthüllung nicht einkalkuliert haben.”

In der Zeit vor Snowden ging diese Kosten-Nutzen-Rechnung aus seiner Sicht auf. Er hatte stets ein gutes Verhältnis zu den Deutschen. Besonders den ehemaligen BND-Chef August Hanning schätzt er. Bis heute schwärmt Hayden von Bayern. Dort, im Voralpenland, liegt Bad Aibling. Der Ort ist zum Symbol der Kooperation zwischen den Nachrichtendiensten geworden. “Jeder wollte dort dienen. Der Blick, das Wetter, die Leute, es war eine Gemeinde, die uns sehr wohlwollend aufgenommen hat.”

Seite 3/4: In Bad Aibling gründeten BND und NSA eine Kooperation

Von Bad Aibling aus hatte die NSA im Kalten Krieg ihre Abhörantennen gen Osten gerichtet. Nach dem Fall der Mauer änderten sich die Zielvorgaben; nun galt das Interesse der NSA den Krisengebieten in aller Welt. Aber würde eine amerikanische Abhörstation auf deutschem Boden nicht ein Quell ständiger Irritation im bilateralen Verhältnis sein? Bei August Hanning stieß Hayden auf offene Ohren mit seiner Idee, die Anlage den Deutschen zu übergeben. Die Politik stimmte zu. “Also schlossen wir Bad Aibling”, so Hayden.

Nicht ganz. Eine kleine Truppe amerikanischer Abhörspezialisten genoss weiterhin den Blick auf die Berge. Ein im Jahr 2002 vereinbartes Memorandum of Agreement regelte die Zusammenarbeit zwischen den Diensten. Sein Kern: Von Bad Aibling aus dürfen keine deutschen Bürger belauscht werden. Und informell einigte man sich auch darauf, dass keine deutschen Interessen verletzt werden sollten. Was genau damit gemeint war, ist bis heute unklar. Die Amerikaner jedenfalls verstießen in den Folgejahren aus deutscher Sicht massiv gegen Buchstaben und Geist der Vereinbarung.

In Bad Aibling gründeten BND und NSA eine sogenannte Joint Sigint Activity: Gemeinsam fangen sie per Satellit übertragene Signale aus dem Weltall ab. Praktisch muss man sich die bis heute andauernde Kooperation so vorstellen: Mehrfach täglich schickt die NSA neue Suchbegriffe, sogenannte Selektoren, nach Bad Aibling. Dort werden sie von amerikanischen Verbindungsleuten auf einen speziellen Server geladen. BND-Mitarbeiter leiten die Daten dann nach Pullach weiter, wo auch nach dem Umzug des BND in die Hauptstadt Berlin die Abteilung Technische Aufklärung (TA) geblieben ist. In Pullach nun prüfen die TA-Spezialisten die amerikanischen Selektoren; die Suchbegriffe werden in einem dreistufigen Filterprogramm “sanitarisiert”, wie das der BND nennt, also auf rechtliche Unbedenklichkeit geprüft. Bei den Selektoren kann es sich um E-Mail-Adressen handeln, um Telefonnummern oder um IP-Adressen. Manchmal enthalten sie Klarnamen, manchmal ist auch für Experten kaum zu erkennen, wen oder was die Amerikaner ausspionieren wollen.

Über die Jahre ist das in Bad Aibling eingespeiste Suchprofil, also die Gesamtheit aller Selektoren der NSA, auf etwa 8,2 Millionen Begriffe angewachsen, schätzt Konstantin von Notz, Obmann der Grünen im NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages.

Wie jüngste Enthüllungen zeigen, hielten sich die Amerikaner nicht an die Zusagen von 2002; sie hörten mithilfe des BND nicht nur vereinbarungsgemäß Terroristen in Afghanistan oder im Mittleren Osten ab, sondern sie spürten auch europäischen Politikern, Spitzenbeamten und Unternehmen nach. Damit verletzten sie das Memorandum of Agreement. Wieder einmal tat sich ein großer Graben auf: Die Deutschen pochen auf die Einhaltung von Regeln, die Amerikaner übergehen sie großzügig, wenn sie ihnen im Wege stehen.

Das Abkommen war obendrein Grundlage einer weiteren Kooperation. Zwischen 2004 und 2008 spähte der BND für die Amerikaner auch das deutsche Kabelnetz aus, und zwar am “Frankfurter Knoten”, einem der wichtigsten Internetverbindungspunkte der Welt. Auch dafür übermittelte die NSA massenhaft Suchbegriffe.

“Die Amerikaner zeigten uns, wie man die Kabel anzapft, im Gegenzug lieferten wir ihnen Daten”, sagt Ernst Uhrlau, zu jener Zeit der Leiter der Abteilung VI im Kanzleramt und danach, von 2005 bis Ende 2011, Chef des BND. Die Frankfurter Operation hieß “Eikonal”, so bezeichnen Physiker die Strecke eines Lichtstrahls. Die Telekom als Betreiberin des Netzes erhob allerdings rechtliche Bedenken. Daraufhin schrieb Uhrlau Ende Dezember 2003 einen Brief an die Telefongesellschaft, wonach das Kanzleramt die Maßnahme für rechtlich zulässig halte. Der damalige Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier, sagt Uhrlau der ZEIT, sei “inhaltlich unterrichtet gewesen, dass es ein Schreiben an die Telekom gegeben hat”. Von einem “Freibrief” spricht Konstantin von Notz. “Dieser Brief ist ein Megaskandal, weil sich das Kanzleramt damit über das geltende Recht und die Verfassung hinweggesetzt hat”, empört sich der Abgeordnete.

Was die Telekom offenbar nicht wusste: Der BND sollte auch im Auftrag der NSA abhören. Und was der BND wiederum den Amerikanern vorenthielt: Europäer sollten nicht ausgespäht werden, denn das hätte gegen deutsche Interessen verstoßen. Folglich sortierte der BND entsprechende Suchbegriffe der Amerikaner aus. Irgendwann jedoch merkte die NSA, dass sie nicht wunschgemäß bedient wurde, und bat um einen ungefilterten Zugang zum Kabelnetz. Doch der damalige Kanzleramtschef Thomas de Maizière lehnte das Begehren ab.

Die NSA war nicht amüsiert. 2008 zogen sich die Amerikaner frustriert vom Frankfurter Knoten zurück. Wieder einmal war das deutsche Pochen auf Gesetze stärker als das gemeinsame Interesse.

Und doch brauchen BND und NSA einander. Finanziell und technisch ist der amerikanische Geheimdienst dem deutschen weit überlegen. “Nach 9/11 haben die USA ihre Dienste technisch so aufgerüstet, dass sie Schritt halten konnten mit der Digitalisierung der Gesellschaft”, sagt Christian Flisek, SPD-Obmann im NSA-Untersuchungsausschuss. Heute wanderten technisch versierte Mitarbeiter zwischen den IT-Firmen und den Geheimdiensten hin und her. Die Deutschen haben zweierlei zu bieten: eine für das Abhören bestens geeignete geografische Lage im Herzen Europas und Verbindungen in manche Länder, in denen die Amerikaner kaum oder nicht präsent sind. Ganz besonders in Russland profitiert die NSA vom Wissen des BND.

5. In Deutschland bleibt kein Geheimnis geheim

Beiden Regierungen ist eine enge Zusammenarbeit ihrer Nachrichtendienste wichtig. Am liebsten würden sie darum die NSA-Affäre hinter sich lassen. Wenn das so einfach ginge.

Auf dem G-7-Gipfel im bayerischen Elmau im Juni sparte man das Thema aus. Stattdessen demonstrierten Obama und Merkel pure Harmonie. Doch dann hagelte wieder ein neuer Abhörskandal dazwischen, und der Ärger begann aufs Neue.

So ging es auch im Frühjahr 2015 zu. Da erfahren wir: Jahrelang hat der BND für die NSA in Bad Aibling wohl auch europäische Ziele ausspioniert. Überdies: Die Liste unzulässiger Suchbegriffe, die der BND bereits nach eigener Prüfung aussortiert hat, umfasst knapp 40.000 Selektoren.

Der Bundestag will nun Klarheit. Der NSA-Untersuchungsausschuss verlangt, die Liste einzusehen. Die Regierung aber erklärt, das gehe nur mit Zustimmung der Amerikaner.

Seite 4/4: Der NSA-Untersuchungsausschuss wühlt sich durch 2500 Aktenordner

In Wahrheit überließ jedoch das Weiße Haus, so hat die ZEIT erfahren, die Entscheidung, ob der Untersuchungsausschuss die Selektorenliste mit den unzulässigen Suchbegriffen erhalten sollte, der Bundesregierung.

Das alte Misstrauen, dass man in Berlin oft lax mit vertraulichen Informationen umgeht, aber blieb. Ein Obama-Berater: “Könnten wir davon ausgehen, dass alles, was geheim bleiben soll, auch geheim bleibt, dann hätten wir weniger Bedenken. Die Erfahrung lehrt allerdings, dass bei euch am nächsten Tag alles in der Zeitung steht.”

Die Behauptung der Bundesregierung, die Amerikaner hätten für den Fall einer Veröffentlichung der Selektorenliste mit einer Einschränkung der Geheimdienst-Kooperation gedroht, nennt der Obama-Berater im Übrigen “eine absolute Mär”.

Seit fünfzehn Monaten bereits versucht der Untersuchungsausschuss des Bundestages, Licht in die Vorgänge um NSA, BND und Kanzleramt zu bringen. Durch 2500 Aktenordner mit 400.000 Seiten müssen sich die Abgeordneten wühlen. Das allein wäre schon mühsam genug. Doch was die Arbeit zusätzlich erschwert, sind die Geheimhaltungsbestimmungen der Bundesregierung. “Wir haben Hunderttausende von Schwärzungen”, berichtet der grüne Abgeordnete Konstantin von Notz. “Es fehlen Zigtausende Seiten, die aus den Akten rausgenommen worden sind, weil sie von der NSA kommen.”

Der Ausschuss steht immer noch am Anfang seiner Aufklärungsarbeit. Die düstersten Kapitel kommen erst. Zum Beispiel der “geheime Krieg”, der tödliche Einsatz von Drohnen im Kampf gegen den Terrorismus.

Oder die weltumspannende Spionage der Briten, die nach Meinung eines ehemaligen hohen Diplomaten “viel hemmungsloser als die Amerikaner” vorgehen.

Die Bundesregierung muss sich wappnen – und das Weiße Haus ebenso. “Viele Dokumente sieht auch das Kanzleramt zum ersten Mal”, sagt von Notz. “Es muss erst mal alles gegen das Licht halten, um zu sehen, was da noch für Bömbchen schlummern.”

About this publication