Amerikas PC-Regeln bedrohen die freie Lehre
An amerikanischen Universitäten wird die politische Korrektheit allmählich zu einer gnadenlosen Doktrin, die die Meinungsfreiheit bedroht. Verantwortlich ist auch die erste Social-Media-Generation.
In den geisteswissenschaftlichen Seminaren an amerikanischen Hochschulen herrscht ein Ungeist von Angst und Selbstzensur, Denunziation und Ironieverbot. Dünnhäutige Studenten nehmen sich das Recht, ihre Professoren zu maßregeln und ihnen den Mund zu verbieten. Sie meinen, in Notwehr gegen zu harsche Worte zu handeln, die ihre Gefühle verletzen könnten. Sie glauben, Anspruch auf das Lernen in einem Schutzraum zu haben, der Wirklichkeit nur in bekömmlichen Filtraten erlaubt.
“Mikroaggressionen” nennt man die geringsten irritierenden Andeutungen eines Professors oder Kommilitonen: etwa einen Latino zu fragen, woher seine Eltern stammen, zählt – durch die gefühlte Implizierung, er sei kein “richtiger Amerikaner” – bereits als beleidigende Mikroaggression.
“Trigger warnings”, Warnungen vor Verletzungsgefahr, werden von den Lehrern verlangt, auf dass das Böse niemanden unvorbereitet trifft. Es ist die 68er-Rebellion mit umgekehrten Vorzeichen: Studenten wehren sich gegen das kritische Denken ihrer Professoren, sie verlangen eine behütete, konfliktfreie Lehre.
Die Mikroaggression an amerikanischen Universitäten
So staunenswert und niederschmetternd liest sich der Befund, den der Verfassungsrechtler Greg Lukianoff und der Sozialpsychologe Jonathan Haidt in einem Brandartikel für die Septemberausgabe des angesehenen US-Magazins “The Atlantic” erörtern. Die Autoren bemühen sich über die Maßen, fair zu sein und keine ganze Generation als verzärtelt und intellektuell einfältig zu verdammen. Zudem belegen sie ihre Beobachtungen mit einer langen Reihe von Beispielen; sie sind keine Spinner.
Surreal erscheint die Anekdote von einer Installation asiatisch-amerikanischer Studenten, die im April dieses Jahres an der Brandeis University die Sensibilität für Mikroaggressionen gegen sie stiften sollte. “Sollten Sie nicht gut in Mathe sein?” und “Ich bin farbenblind! Ich sehe keine Rassen” wurden als beispielhaft für solche subtilen Angriffe ausgewählt. Bis die Installation geschlossen werden musste, weil andere Kommilitonen asiatischer Herkunft gerade ihre Existenz als “Mikroaggression” brandmarkten und sich schwer beleidigt fühlten.
Um Fühlen geht es, nicht Denken, gar objektives Wissen. Die Autoren haben sich seit Jahren mit dem um sich greifenden Phänomen befasst, das sie “vindicative protectiveness” taufen, ungefähr “rachsüchtige Schutzhaltung”. Lukianoff ist CEO der “Stiftung für individuelle Rechte in der Erziehung”, Jonathan Haidt ist zum Experten für Amerikas Kulturkämpfe avanciert.
Fragile junge Studenten
Sie legen Wert darauf, ein Missverständnis aufzuklären, das sie in den amerikanischen Medien zu finden meinen: Der neue Anspruch der Studierenden auf Schonung sei nicht gleichzusetzen mit der Welle der “Politischen Korrektheit” in den 80er- und 90er-Jahren.
Damals kämpften marginalisierte Minderheiten um ihren angemessenen Platz in der Lehre: “Native Americans” (Indianer), Schwule, Lesben und Transsexuelle, Nicht-Weiße aller Farben und Ethnien drängten in den Mainstream und erzwangen einen erweiterten Kanon der Hochschulbildung. Was immer man von einzelnen bizarren Auswüchsen der “afro-american studies” und “gender studies” halten mochte, ihr Ziel war Aufklärung und Vielfalt.
Die gegenwärtige Bewegung gründet dagegen vor allem im Ringen um ein “emotionales Wohlgefühl”. Die Grundannahme ist, dass junge Studierende psychisch fragil sind und Anspruch darauf haben, beim Lernen nicht belastet oder auch nur irritiert zu werden. Sie können nicht anders.
Was Social Media anrichtet
Als erste Generation, die seit dem Kindergartenalter mit sozialen Medien aufwuchs, haben sie gelernt, sich in anonymen Chat-Gruppen zu empören oder zu vergnügen, Gleichgesinnte zu loben und “Verräter” zu strafen. Andersdenkenden dasselbe Rederecht zu gewähren, zu debattieren und womöglich von ihnen zu lernen, ist ihnen fremd. Sie sehen sich bestätigt durch die politische Kultur Amerikas, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten ideologische Grabenkämpfe verherrlicht und den Kompromiss zum Schimpfwort degradiert hat.
Amerikanische Politikwissenschaftler haben diese historisch beispiellose Erstarrung, die zur fast vollständigen Lähmung des Kongresses und Schwächung des Präsidenten führt, als “affektive Parteienpolarisierung” bezeichnet. Sie ist Gift für die älteste Demokratie der Welt.
“Ich fühle, also bin ich (im Recht)”, lautet das Mantra, was “Ich denke, also bin ich” zu verdrängen scheint. Die sokratische Idee, Studenten nicht beizubringen, was sie denken sollen, sondern, wie sie denken und andere begreifen könnten, gerät in die Defensive, wenn Professoren bei jeder Vorlesung, jedem Beratungsgespräch, jedem gutmütigen Scherz fürchten müssen, sich eine Rüge der Universitätsleitung oder gar die Suspendierung einzufangen.
Es gibt in den Vereinigten Staaten kein Grundrecht (nicht einmal das Recht, eine Waffe zu tragen), das so leidenschaftlich verteidigt wird wie die Meinungsfreiheit
Seit die Studienkosten in perverse Höhen geschnellt sind und Universitäten um Studenten kämpfen müssen, sind die Chancen für Denunzianten gestiegen. Lukianoff und Haidt berichten von einem Fall an der Indiana-Perdue University in Indianapolis.
Dort hatte ein weißer Student ein Buch über einen Studentenaufstand gegen den Ku Klux Klan 1924 in Notre Dame gelesen; auf dem Einband war ein Foto einer Klan-Versammlung. Dies glaubte ein Kommilitone nicht ertragen zu müssen. Das “Affirmative Action”-Büro der Universität gab dem vorgeblich Beleidigten recht. Das Buch kam auf den Index.
Nun gibt es in den Vereinigten Staaten kein Grundrecht (nicht einmal das Recht, eine Waffe zu tragen), das so leidenschaftlich verteidigt wird wie die Meinungsfreiheit. “Freedom of speech!” wird jedem entgegengeschleudert, der sich daran stößt, dass man in SS-Uniform auf dem Times Square paradieren, den Präsidenten einen Hochverräter schimpfen, politischen Kandidaten mit Abermillionen Dollar Spenden den Weg de facto freikaufen kann.
Der Druck auf die Hochschulen
Es ist schwer zu verstehen, warum die US-Bundesregierung die massive Einschränkung von freier Meinung und Lehre durch dünnhäutige, gefühlige Studenten an Hochschulen nicht nur duldet, sondern fördert. Darauf laufen jedenfalls die seit 2013 gültigen Antidiskriminierungs-Statuten hinaus, die Belästigung und ungleiche Behandlung wegen dem Geschlecht, der Rasse, der Religion oder der Nationalität an Hochschulen unter Strafe stellen.
Sie bringen die Universitäten unter noch größeren Druck und spielt denen in die Hände, die den Campus als realitätsbereinigte Schutzzone für sensible Seelen verstehen.
Wie diese behüteten Eliten, die gewöhnt sind, stets Recht zu haben und zu bekommen, sich in Amerikas rauer Arbeitswelt zurechtfinden sollen, ist offen. Nicht nur Greg Lukianoff und Jonathan Haidt sollte das Sorgen machen. In anderen Ländern der freien Welt, die Amerikas akademischen Trends traditionell folgen, lohnte es sich, in den eigenen Hochschulen nach neuen Sprech- und Denkverboten zu forschen. Es wäre ein Wunder, gäbe es sie nicht.
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