Endlich Zeit für Familienstreit
Von Matthias Kolb
29. November 2015
An Thanksgiving streiten US-Familien über Trump, IS und Flüchtlinge. Wie bei Facebook ersetzen Emotionen die Fakten: Der Lauteste gewinnt. Diese Debattenkultur erwartet auch uns Deutsche.
Wenn sich amerikanische Familien Ende November treffen, um Thanksgiving zu feiern, dann dreht sich alles ums Essen. Der Truthahn wird angeschnitten, viele klagen über die lange Anreise und alle berichten, was sie an Neuigkeiten aus ihrem Privatleben verraten wollen. Und weil sich die Verwandten oft nur ein Mal im Jahr sehen, werden auch alle anderen wichtigen Themen debattiert.
Wie laut es bei diesen Diskussionen zugehen kann, ist in zahllosen Hollywood-Filmen und TV-Serien verewigt worden, denn Thanksgiving übertrifft als Familienfest das deutsche Weihnachten. Und wenn in der Satireshow Saturday Night Live die Figur des “Drunk Uncle” (betrunken, rassistisch, eher ungewaschen) auftaucht, dann haben wohl viele Amerikaner eine reale Person vor Augen.
Denn auch wenn es Football als Ablenkung gibt, reden alle irgendwann über Politik und alles, was sonst in den Nachrichten kommt. Während das Essen weitergeht und das Trinken beginnt, streiten die Kinder, die aus ihren College-Städten heimgekommen sind, mit den konservativen Großeltern, die nur Fox News gucken – und alle anderen mischen sich ein.
Ging es früher um Obamas Religion und Obamacare, so debattieren die Amerikaner 2015 über Donald Trump, die IS-Dschihadisten, Flüchtlinge, Black Lives Matter und Polizeigewalt. Websites wie Vox.com oder The Upshot stellen faktenreiche Übersichtsartikel wie “So überlebst du die Thanksgiving-Diskussion mit der Familie” zusammen.
Doch am Küchentisch oder später im Wohnzimmer helfen die darin enthaltenen Zahlen dann doch eher selten, denn in diesen Diskussionen sind Überzeugungen, eine laute Stimme und ganz viele Emotionen wichtiger.
Jeder muss eine Meinung haben
Viel spricht dafür, dass es an Weihnachten 2015 in deutschen Wohnzimmern ähnlich sein wird. Die Verunsicherung ist groß nach den IS-Anschlägen in Paris mit 130 Toten und so vielen Gerüchten und Behauptungen im Internet. Heute muss jeder eine Meinung haben, der Hinweis “Ich weiß nicht genau, das ist mir zu kompliziert” zieht nicht mehr. Was bei der Debatte um die griechische Schuldenkrise begann, ist jetzt allgegenwärtig: Jeder muss sich auf eine Seite stellen. Merkels Flüchtlingspolitik ist entweder die einzig richtige, weil menschliche Reaktion oder der Beginn des wirtschaftlichen Niedergangs Deutschlands.
Via Facebook, wo der Kampf um die Meinungshoheit in den Kommentarspalten in Echtzeit ausgetragen wird, schreibt eine Bekannte: “Mich entsetzt es so, dass meine Eltern so unmenschlich sind und denken, dass nur junge Männer kommen und dass niemand Kriegsflüchtling sei, weil sie alle ihre Pässe wegwerfen oder ähnliches. Meine Geschwister und ich sind komplett anderer Meinung. Es ist total beklemmend und vor Weihnachten graust mir. Schön christliche Werte hochhalten, aber null Mitgefühl und Verantwortung aufbringen.”
Andere Freunde wissen schon jetzt, dass sie schweigen werden, wenn die Verwandten wissen wollen, was man von “den ganzen Ausländern” halte: “Ich sage mittlerweile schon, dass ich nicht darüber diskutieren möchte. Es lässt sich sowieso keiner vom Gegenteil überzeugen, und diejenigen, die die gleiche Meinung haben, verbünden sich.”
Deutschland wird amerikanisiert
Ähnliche Aussagen höre ich von fast allen, die ich zu Diskussionen im Freundes- und Familienkreis oder mit Kollegen befrage. Und solche Sätze kannte ich bisher nur aus Amerika. Seit vier Jahren reise ich als Journalist durch die USA. Hier ist die Dominanz der Meinungen erdrückend und es dauert eine Weile, bis man als Ausländer versteht, dass für viele Amerikaner Politik zum Glaubenskampf geworden ist. Jede Seite konsumiert ihre eigenen Medien – und misstraut allen anderen (viele Republikaner halten sogar alle Zahlen der eigenen Regierung für Fälschungen).
In Deutschland, wo Merkel die CDU sozialdemokratisiert hat und niemand das Konzept “Krankenversicherung für alle” anzweifelt, gab es solche Gefühlsausbrüche lange nicht. Ich war bestürzt, als mir der Essayist John Jeremiah Sullivan 2013 erzählte, dass er etwa auf Reisen NIE über Politik rede, weil dies schlicht zu deprimierend sei:
“Auf dem Rückflug von Norwegen saß ich neben einer Frau aus Texas. (…) Plötzlich fragte sie: ‘Eigentlich will ich es nicht wissen, aber wo stehen Sie politisch?’ Sofort krümmte sich mein Magen zusammen. Sie sagte mir, wie sehr sie den “Sozialisten Obama” fürchte, der Geschäftsleuten den Krieg erklärt habe und dass sie auf einer Ranch lebe. Da ihr Mann oft unterwegs sei, habe sie natürlich ein Gewehr. ‘Ich werde Sie nicht anlügen. Wenn ein Einbrecher kommt, dann werde ich ihm ins Gesicht schießen.’ Sie hat das genau so gesagt ‘ins Gesicht schießen’.”
Immer mehr Deutsche sind wütend, unsicher und misstrauen Journalisten
Gewiss: Das Thema “Waffen in Amerika” ist speziell (wobei sich etwa in Nürnberg die Anträge für einen Waffenschein verdoppelt haben), doch die öffentliche Stimmung in Deutschland ist so angespannt, dass ich verstehen kann, wenn jemand schweigt und solche Diskussionen meidet. Ich entdecke immer mehr Amerikanisches in Westeuropa. Kurz vor der Wahl 2012 skandierten die Fans von Mitt Romney in Ohio vor dem Pressezelt: “Shame on you, do your job!” Auch in Deutschland schwindet das Vertrauen in die Medien (“Lügenpresse”), was jeder Journalist im Privatleben mitbekommt.
Da ist die Kollegin, deren Tischnachbarn bei einer Hochzeit sagen, nachdem sie ihren Beruf verraten hat: “Aha, dann wissen wir ja, worüber wir heute Abend nicht reden.” Eine andere Journalistin aus dem Bekanntenkreis berichtet, wie der Kaminkehrer in Begleitung des Lehrlings beim Kaffee sagt: “Es wird ungemütlich werden und läuft auf einen Bürgerkrieg raus, wir gegen sie. Sie, das sind die Flüchtlinge, von denen die Hälfte zum IS gehöre.” Auf ihre Frage, woher er das wisse, entgegnet er: “Kannst du überall nachlesen, nur halt nicht in deiner SZ.”
Die Schilderungen dieser Behauptungen klingen für mich seltsam vertraut und erinnern an Gespräche mit Tea-Party-Aktivisten. Die US-Wirtschaft werde kollabieren, wenn Obamacare eingeführt wird. Wer regelmäßig einige Stunden Fox News guckt oder Talkradio hört, der kann diese Panik nachvollziehen: Kein Thema wird in ähnlich vielen Variationen durchgespielt wie der unvermeidliche Untergang der USA.
Dass es für die angeblichen Pläne der Regierung, hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, keine Beweise gibt, dient als Beleg für die Hinterhältigkeit der Beamten: “Natürlich verraten die ihre Vorhaben nicht.”
Sehnsucht nach vergangenen Zeiten
Hinter diesen paranoiden Gedanken (dass etwas nicht zu belegen ist, macht alles nur gefährlicher und bedrohlicher) steht eine große Unsicherheit. Die US-Gesellschaft verändert sich rasant: Spanisch ist schon heute die zweite Landesssprache und die weißen Caucasians werden 2042 in der Minderheit sein. Studien belegen: Es sind die älteren, weißen Männer, die am wütendsten sind – weil ihre Heimat nicht mehr so ist wie in ihrer Jugend.
Dass Wandel Angst machen kann, erlebt die deutsche Gesellschaft gerade im Schnelldurchlauf: Dieses Land kann nicht nur einseitig als Exportweltmeister von der Globalisierung profitieren, und sich zugleich abschotten von den Krisen der Welt, für deren Ausmaß auch Deutschlands Politiker (etwa durch Nichtstun) und Bürger (durch Wegschauen) mitverantwortlich sind.
Die eigene Überzeugung (pro oder contra Merkels Flüchtlingspolitik) beeinflusst bei jedem, wie er Informationen gewichtet. Facebook und die Filterblase führen dazu, dass jeder User vor allem Nachrichten sieht, die die eigene Meinung verstärkt. Doch anders als die meisten Amerikaner müssen viele Deutsche erst noch überlegen, wie sie bei diesen Diskussionen reagieren. Kämpft man für die eigene Position? Spricht man es aus, wenn man die Kommentare der eigenen Verwandten/Freunde/Kollegen als rassistisch empfindet – oder wird geschwiegen? Ein anderer Bekannter bilanziert die Diskussionen mit seinen Eltern:
“Es stört sie, dass überhaupt Geld für Fremde ausgegeben wird. Ein weiteres Thema war die absolut unmögliche Integration der ‘ganzen Männer’. Der Hauptgrund sei das furchtbare Frauenbild der Araber etc. Vor allen Dingen das Tragen von Kopftüchern sehen sie als Affront gegen die heimische Kultur. Immer wieder Kopftuch und Frauenrechte. Die vielen Vietnamesen, die im Osten wohnen, hätten sich sehr gut integriert, die Kinder sind fleißig und die Frauen arbeiten genauso wie die Männer. (…) An diesem Gespräch war mir einfach alles peinlich und ich habe meine Eltern nicht wiedererkannt, dafür aber ganz andere Leute (“besorgte Bürger”), mit denen ich eigentlich nichts zu tun haben wollen würde. Mein Bruder und ich haben so lang argumentiert, wie wir konnten. Irgendwann haben wir aufgegeben ohne einen Kratzer zu hinterlassen. Aber ich liebe meine Eltern natürlich trotzdem!”
Wahrscheinlich sind jene in der Minderheit, die sich heute schon gruseln vor den Tischgesprächen rund um Weihnachten. Und den anstehenden Diskussionen auszuweichen, auch wenn sie unangenehm sind, ist sicher nicht die richtige Strategie. Es sind eminent politische Zeiten, in denen es darum geht, wie die deutsche Gesellschaft jetzt reagiert – und wie die Europäische Union in Zukunft aussehen soll. Darüber darf, soll und muss diskutiert werden.
Und wenn es gelingt, mit Respekt zuzuhören und zu versuchen, die Eindrücke und Sorgen der Anderen zumindest teilweise nachzuvollziehen, muss es ja nicht zum Familien-Streit kommen. Die englische Formel we agree to disagree, also das Eingeständnis, anderer Meinung zu sein, bietet einen guten Ausweg.
Die lange Tradition der Amerikaner, sich an Thanksgiving mit “drunk uncle” und anderen Verwandten zu streiten, lässt sich ja auch so interpretieren: Im nächsten Jahr sitzen trotzdem wieder alle am gleichen Tisch, weil ja alle zur Familie gehören. Der Kolumnist EJ Dionne formuliert es so: “Als Kind haben mir die rauen Diskussionen an Thanksgiving, die meine Familie so sehr zelebierte, eines gezeigt: Liebe und Meinungsverschiedenheiten sind keine Gegensätze.”
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