How To Become an American

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Kein Land hat so viel Erfahrung mit Flüchtlingen und Einwanderern wie die USA. Europa kann davon lernen – im Guten wie im Bösen.

Von Karsten Polke-Majewski, San Francisco

Wenn Zar Ni Maung über seinen Computerbildschirm aus dem Fenster blickt, kann er das Treiben auf der Market Street beobachten. Dann sieht er, wie Hunderte Menschen diese schnurgerade Straße entlangeilen, die sich durch Downtown San Francisco zieht. Er sieht Menschen aus der ganzen Welt, plaudernd in jeder erdenklichen Sprache, gekleidet in Gewänder, die sonst die Straßen von Mumbai, Pfade in den Anden oder den Finanzdistrikt von London prägen. Kaum irgendwo in den Vereinigten Staaten ist die Vielfalt der Kulturen so groß wie in San Francisco. Nur wer hier einen Flüchtling finden will, muss lange suchen. Jedenfalls einen, den das amerikanische Recht auch als solchen anerkennt. So wie den Burmesen Zar Ni Mang.

Amerika! So heißt seit Jahrhunderten der Sehnsuchtsort der Unterdrückten und Verfolgten. Seit die Europäer die ihnen neue Welt entdeckt hatten, retteten sich Menschen dorthin. Religiöse Abweichler aus England, Frankreich und den deutschen Staaten, später Demokraten vor der Verfolgung durch die Restauration, Juden und Regimegegner vor den Nazis, Oppositionelle aus der Sowjetunion und anderen Ostblockstaaten, Bürgerrechtler aus Südafrika, Freidenker aus südamerikanischen und asiatischen Diktaturen.

Nun, da so viele Menschen nach Europa fliehen und die Regierungen dort immer hilfloser nach Antworten auf diese Herausforderung suchen, lohnt es sich, in ein Land zu reisen, das mehr als 300 Jahre Erfahrung mit Einwanderung und Integration hat. Was man vorfindet, wenn man in San Francisco, Palo Alto und Miami mit Flüchtlingen, Migrationsforschern, Küstenwächtern und Asylanwälten spricht, ist nicht perfekt. Aber viele Gedanken, die in Europa gerade erst gewälzt werden, wurden in den USA schon zu Ende gedacht, viele Ideen bewertet, für klug befunden oder verworfen, und manche Lösung wurde gefunden.

Flucht um die halbe Welt

Zar Ni Mung grüßt mit einem freundlichen Lächeln. Er ist etwa 50 Jahre alt, trägt ein einfaches kariertes Hemd und Jeans. Er sitzt in einem von drei kleinen, sehr einfach eingerichtete Büros im siebenten Stock des Flood Buildings, eines jener gewaltigen gründerzeitlichen Bürogebäude im Zentrum San Franciscos, die sogar das Erdbeben von 1906 überstanden haben. Heute residiert hier eine wilde Mischung kleiner Unternehmen und Agenturen. “Waxing, Massage, Natrual Nails” steht in goldgeschwungene Lettern an der milchverglasten Tür auf der anderen Seite des Gangs. Zar Ni Mungs Agentur heißt Refugee Transitions.

Der Burmese ist selbst Flüchtling und als solcher offiziell anerkannt. Das ist keine Selbstverständlichkeit: Es wandern zwar jedes Jahr Hundertausende in die USA ein, viele geregelt, viele auch illegal. Aber als Flüchtlinge gelten nur die 70.000 Menschen, die vom Präsidenten offiziell als solche aus anderen Ländern eingeladen werden. Hinzu kommen noch weitere 30.000 Asylbewerber, die es irgendwie bis in die Vereinigten Staaten geschafft haben. Wie schwer es ist, ein anerkannter Flüchtling zu werden, zeigt gerade das Schicksal jener Syrer, die auf eine Aufnahme in den USA gehofft hatten. 20 Bundesstaaten und die Republikanische Partei haben kürzlich abgelehnt, auch nur einen von ihnen aufzunehmen.

Die Geschichte Zar Ni Mungs ist so lang und verworren wie die vieler Flüchtlinge. Geboren wurde er in Myanmar, als es offiziell noch Burma hieß. In den achtziger Jahren studierte er in Rangun und war in der demokratischen Studentenbewegung aktiv. 1988 kam es zu Protesten, die Militärdiktatur griff hart durch. Zar Ni Mung flüchtete. Über London und das ghanaische Accra kam er schließlich nach San Francisco.

Wohnen dürfen, wo man Menschen kennt

Immer hat Zar Ni Mung versucht, die Opposition in seinem Heimatland aus der Ferne zu unterstützen. Aber seit er an der Bucht von San Francisco lebt, ist eine neue Aufgabe hinzugekommen. Denn in Oakland, nur eine Brückenlänge entfernt, leben Dutzende Landsleute von ihm und es geht ihnen schlecht.

“Flüchtlinge aus Burma sind hierher geholt worden, um der Verfolgung und Not zu entkommen. Sie hofften auf ein besseres Leben in den Vereinigten Staaten. Aber stattdessen wurden sie vernachlässigt; sie sind gefangen in einem Netz der Armut”, sagt Zar Ni Maung. 63 Prozent von ihnen seien arbeitslos. 57 Prozent aller Haushalte, in denen durchschnittlich fünf Personen lebten, müssten mit weniger als 1.000 Dollar im Monat auskommen.

Ihnen will Zar Ni Mung helfen. Sein Arbeitgeber Refugee Transitions ist eine Freiwilligenagentur. Sie springt ein, wo die staatliche Unterstützung für Flüchtlinge endet.

Wer als anerkannter Flüchtling in die USA umgesiedelt wird, bekommt acht Monate finanzielle Hilfe. Hat er Verwandte oder Freunde, die schon in den USA leben, darf er bei ihnen unterschlüpfen. Der Staat gibt den Gastgebern dann Geld, damit sie den Ankömmling in die Regeln und Gewohnheiten des neuen Landes einführen. Nach Ablauf der Frist muss der Flüchtling alleine zurechtkommen.

Zuhören, nicht fragen

Wer keine Verwandten am Ort hat, dem helfen Agenturen wie Refugee Transitions. Seit 30 Jahren bildet die Agentur freiwillige Helfer aus. Sie begleitet Familien, vermittelt Sprachkurse, erklärt das Bussystem, hilft ein Bankkonto zu eröffnen, sucht die passende Unterstützung, wenn ein Problem ihre eigenen Möglichkeiten übersteigt und beispielsweise ein Schulpsychologe hinzugezogen werden muss oder ein Traumaspezialist.

Das klingt ähnlich wie die Patenschaften, die gerade viele engagierte Deutsche für Flüchtlinge übernehmen. Doch das amerikanische Modell ist wesentlich professioneller.

Die Ausbildung für die Helfer dauert Wochen. Die Freiwilligen lernen, wie man Sprachbarrieren überwindet. Sie erfahren, aus welcher Kultur ihre Klienten kommen und welche Besonderheiten zu beachten sind. Sie werden trainiert zuzuhören und wissen, wie sie reagieren können, wenn die Flüchtlinge von traumatischen Erfahrungen erzählen, vom Tod eines Kindes beispielsweise. Sie lernen, nicht zu viele persönliche Fragen zu stellen, sondern abzuwarten. Wer Vertrauen fasst, wird von alleine reden. Das Ziel der Helfer ist ohnehin nicht, die Vergangenheit aufzubereiten, sondern einen guten Start ins neue Leben zu ermöglichen. Sie wollen ihren Klienten vermitteln, dass sie hier in Sicherheit leben können, und sie wollen sie aus der Isolation befreien, in die sie die Scheu vor dem fremden Land und die fehlenden Sprachkenntnisse manchmal führen.

Zar Ni Mung betreut den Familienservice. Außerdem vermittelt er junge Leute in ein zweites Programm der Agentur, das Community Leadership heißt. Es stützt sich auf die Erfahrung, dass sich Kinder und Jugendliche meist schneller einleben als ihre Eltern und weniger Schwierigkeiten haben, Englisch zu lernen. Deshalb rekrutiert die Agentur Jugendliche, die in der Schule erfolgreich sind, und bildet sie in all den Dingen weiter, die Flüchtlinge im Umgang mit der Bürokratie wissen müssen. So sollen sie in ihren Flüchtlingsgemeinschaften zu Multiplikatoren werden und an ihren Schulen neuen Schülern aus ihren Heimatländern als Tutoren beistehen.

Das klingt gut und pragmatisch. Aber gilt es nicht, mehr zu vermitteln als praktischen Rat? Wie bringt ihr den Flüchtlingen die Werte der neuen Gesellschaft bei? Zar Ni Mung stutzt und fragt nach: “Sie meinen: How to be an American?” Dann lacht er schallend.

Auf dem Weg nach Palo Alto klingt sein Lachen noch nach, als der Vorortzug Richtung Süden rattert. Am Ende dieser Fahrt wird auch klar sein, was seine Heiterkeit auslöste.

Flache, langgestreckte Terrakotta-Bauten, verbunden von schattenspendenden Bogengängen, im Zentrum die Memorial Church: Die Universität Stanford in Palo Alto erinnert an eine spanische Missionsstation, und sie hat eine Mission. Hier wird Zukunft gemacht. Hewlett-Packard, Cisco Systems, Google – die Gründer dieser Unternehmen haben hier studiert. Die Universität und die sie umgebende Stadt Palo Alto ist voller Menschen, die die Welt verändern wollen.

Etwas abseits, im Osten des Campus, steht wuchtig die Encina Hall. Vier Stockwerke hoch erhebt sich das sandsteinfarbene Gebäude seit 1891 über die flache Anlage im Zentrum. Einst war es ein Hotel, heute beherbergt das dreischiffige Gebäude unter anderem die Fakultät der Politikwissenschaften. Oben im engen Dachgeschoss hat der Politologe Jens Hainmueller sein Büro, ein dynamischer Mann um die vierzig, in Jeans und kariertem Business-Hemd. Das Rennrad hat er hinter der Tür geparkt.

Hainmueller war als Professor schon in Havard und am Massachusetts Institute of Technology, in Stanford unterrichtet er auch Betriebs- und Volkswirte. Außerdem ist er Statistiker mit einem ausgeprägten Hang dazu, den Sinn oder Unsinn politischer Maßnahmen mit Zahlen zu belegen. Vor allem aber leitet Hainmueller mit zwei Kollegen das Immigration and Integration Policy Lab der Universität.

Keinem auf der Tasche liegen

Hainmueller spricht schnell und präzise, die vielen Jahre in englischsprachigen Ländern haben ihn zwar nicht die deutsche Grammatik, aber doch einige Vokabeln vergessen lassen. Kann er die Frage nach den Werten verstehen, über die Zar Ni Mung so lachen musste? Die Sorge vieler Deutscher um ihre Identität?

Verstehen schon, sagt er, nur hat sie in Amerika so gut wie keine Bedeutung. Die Erwartung der Gesellschaft an einen Flüchtling ist eine ganz andere. “Der Schlüssel, um hier dazuzugehören, ist: Du musst arbeiten, oder zumindest versuchen zu arbeiten. Du darfst dem Staat nicht auf der Tasche liegen. Das ist noch wichtiger, als die Sprache zu können.”

Vielen Flüchtlingen gelingt das. “Nach 180 Tagen in den USA haben 60 bis 70 Prozent von ihnen einen Job”, sagt Hainmueller. Der sei zwar oft schlecht bezahlt, aber sie verdienten ihren eigenen Lebensunterhalt. Das verschaffe den Neuankömmlingen Anerkennung und fördere außerdem die lokale Wirtschaft.

Zu diesem Ergebnis kommen auch andere Forscher. Ein hoher Flüchtlingsanteil kann beispielsweise dazu führen, dass die Löhne einheimischer Arbeiter am Ort steigen. Denn zum einen machen sich Flüchtlinge überdurchschnittlich häufig selbstständig – was in den USA vergleichsweise leicht geht. Sobald ihre Betriebe laufen, brauchen sie Mitarbeiter. Zum anderen übernehmen Flüchtlinge üblicherweise Jobs, in denen die Sprache weniger wichtig ist. Die einheimischen Arbeiter, die diese Aufgaben zuvor erledigt hatten, steigen dadurch auf, organisieren die neuen Mitarbeiter, spezialisieren sich, was wiederum die Firma insgesamt produktiver macht.

Streit schleift Missverständnisse ab

Schwerer haben es die vielen illegalen Einwanderer aus Lateinamerika. Sie schlagen sich als Erntehelfer, Haushaltshilfen oder Uber-Fahrer durch. “Doch auch sie können in Amerika ein relativ normales Leben führen”, sagt Hainmueller. “Die Leute erkennen es an, wenn jemand gut arbeitet und stellen ihn ein, wenn er zeigt, dass er etwas kann.”

Was aber halten die eingesessenen Amerikaner davon, wenn plötzlich viele Fremde in die Nachbarschaft ziehen? Hainmueller hat darauf zwei Antworten. Die allgemeine: Die Offenheit zu prüfen, ob das, was die neuen Nachbarn mitbringen, vielleicht besser ist, als das, was man selbst hat, sei viel größer als in Europa – die Angst vor fremden Kulturen dagegen viel geringer. “So viele verschiedene Gruppen tragen hier ihre Kultur in den öffentlichen Raum. Das kann kaum noch jemanden schockieren”, sagt Hainmueller. “Natürlich hat man sofort Konflikte um Ressourcen, wenn viele neue Menschen kommen. Aber viele Menschen heißt auch, viele Momente, in denen man in Kontakt tritt. Das schleift auf Dauer Missverständnisse ab.”

Letztlich erlebe fast jeder irgendwann, dass er in der Minderheit ist. Da sei es leicht, einen Minimalkonsens zu bilden. Der lautet: Wie ich lebe, geht niemanden etwas an, solange ich für mich selbst sorgen kann.

Versteckter Konsens

Womit Hainmueller zu seiner zweiten Antwort kommt. Sie speist sich aus einer Untersuchung, die er jüngst abgeschlossen hat. Die Frage war: Was denken Amerikaner über Immigration? Die Antwort: Es gebe einen versteckten Konsens, der sich durch alle Schichten der Gesellschaft zieht, trotz der heftigen Auseinandersetzungen in der Einwanderungsdebatte der vergangenen Jahre. Amerikaner favorisierten gut ausgebildete Einwanderer mit hochqualifizierten Jobs. Dagegen lehnten sie Einwanderer ab, denen es am Willen mangelt, zu arbeiten, die ohne staatliche Erlaubnis eingereist sind oder die Iraker sind. In letzterem Ergebnis spiegele sich das große Sicherheitsbedürfnis nach den Anschlägen des 11. September und zweier Kriege im Nahen Osten. “Die Amerikaner fragen nicht: Ist Zuwanderung gut oder schlecht für mich. Sondern sie fragen: Ist sie gut oder schlecht fürs Land”, sagt Hainmueller. “Letztlich steht dahinter die Vorstellung, dass die USA eine offene Gesellschaft sind, die jedem Menschen alle Möglichkeiten bietet, sich zu entwickeln, und die man einfach nur wahrnehmen muss.”

Wer gesehen hat, wie sich junge Männer in deutschen Flüchtlingsunterkünften so verzweifelt langweilen, dass sie die Tische der Kinderbetreuer entern und mit Wasserfarben tuschen, dem leuchtet das Prinzip “Arbeit zuerst” unmittelbar ein. Zumindest solange, wie der Zug braucht, um zurück nach San Francisco zu fahren.

Dort jedoch wartet Karen Musalo. Sie kontert knapp und scharf. Das Motto “Jeder soll frei sein und tun, was er will” blende aus, dass jeder Mensch eine Geschichte habe. Und manchen Menschen mache es diese Geschichte unmöglich, einfach so neu anzufangen.

Musalo ist Juristin und lehrt seit vielen Jahren am Hastings College für Recht der Universität von Kalifornien. Der Weg zu ihr führt zurück ins Zentrum der Stadt. Nahe dem pompösen Rathaus erhebt sich dort der McAllister Tower. 1929 im Stil der Neo-Gothik mit vielen Art-Deco-Elementen errichtet, war das 24 Stockwerke hohe Gebäude ursprünglich eine methodistische Kirche mit mehr als 1.500 Plätzen und aufgesetztem Hotel. Seit 1978 ist hier die juristische Fakultät untergebracht, das Hotel wurde zu einem Studentenwohnheim. Im vierten Stockwerk empfängt Musalo in einem großzügigen Eckbüro.

Ihre dunklen Augen leuchten wach unter ihren Locken. Man spürt sofort die Autorität, die sie in den 30 Jahren erworben hat, in denen sie sich vor Gericht durch schwierigste Asylverfahren kämpfte. Zur Flüchtlingspolitik Washingtons hat sie eine eindeutige Meinung: “Das Umsiedlungsprogramm ist vor allem ein Werkzeug der Außenpolitik.” Denn der Präsident entscheidet, wie viele Flüchtlinge die Vereinigten Staaten jedes Jahr aufnehmen, und zwar aufgeteilt nach fünf Weltregionen. “Es sind handverlesene Leute, die da kommen dürfen.” Deshalb wohl führt Buthan die Liste der wichtigsten Herkunftsländer an, gefolgt von Myanmar, nicht aber Syrien. Kommen nicht auch viele aus dem Irak? “Schon. Nur dauert da der Sicherheitscheck oft so lange, dass die Jahreszahlen gar nicht erfüllt werden.” Wenigstens gebe es für diese Art von Flüchtlingen ein strukturiertes Aufnahmeverfahren.

Ganz anders ist das für all jene, die versuchen, die Vereinigten Staaten auf eigene Faust zu erreichen. Gegen sie hat die Regierung bis zu sieben Meter hohe Zäune entlang der 1.050 Kilometer langen Grenze zu Mexiko errichtet. Rund 18.000 Grenzschützer spüren mit Hubschraubern, Drohnen und Geländewagen den Flüchtlingen nach. Wer ihnen entgehen will, muss sich auf den gefährlichen Weg durch die Wüste machen. Mehr als 300 Menschen sind im vergangenen Jahr dabei gestorben.

Von denen, die es schaffen, erhalten nur diejenigen Asyl, die wohlbegründete Angst vor Verfolgung nachweisen können: wegen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischer Meinung. Auch sexuelle Gewalt gilt seit einigen Jahren als Asylgrund. In einem gefährlichen Land zu leben, reicht hingegen nicht aus.

Was das bedeutet, hat jüngst der Guardian aufgedeckt. Er berichtete von den Fällen dreier junger Männer aus Zentralamerika, die vor der Kriminalität dort geflohen waren. Weil Kriminalität in den USA aber kein Asylgrund ist, wurden die Männer abgeschoben. Alle drei wurden anschließend in ihren Heimatländern Honduras, El Salvador und Guatemala ermordet.

Trotz dieser rigiden Regelung drängen Millionen Menschen in die USA. “Weil es so gefährlich ist, den Zaun zu überwinden oder durch die Wüste zu gehen, versuchen viele Leute es auch mit dem Boot”, sagt Musalo. So haben die USA längst ihr eigenes Mittelmeer – im Osten des Kontinents.

Amerikas Mittelmeer

In Miami in Florida liegen an einem öden Kai auf der Rückseite von Miami Beach die leuchtend weißen Boote der Küstenwache. Im Sechs-Stunden-Rhythmus kreuzen sie zwischen Florida, Kuba und den Bahamas. Die Bilder, die ihr Kommandant zeigt, sehen aus, als kämen sie von der europäischen Grenzschutzagentur Frontex: Segelboote mit Schlagseite und voller Menschen, uralte Fischkutter, in deren Bäuchen die Leute stundenlang eng gedrängt zusammenkauern.

Die Boote legen nachts von den Bahamas ab oder von Kuba, zwischen 2.000 und 10.000 Dollar kostet die Überfahrt, je nach Güte der Boote. “Wir bringen fast jeden Tag solche Boote auf”, sagt einer der Skipper. Kaum 25 Jahre ist er jung, die Muskeln gestählt, die Haare kurz rasiert, die Mütze locker aus der Stirn geschoben. Seine Matrosen sind noch jünger. “Aber wir finden nicht alle Boote. Wer da draußen einen Motorschaden hat, den treibt die Strömung Richtung Nordatlantik.”

Die Geretteten werden an Bord registriert. Dann wird noch auf See von mitfahrenden Beamten der Einwanderungsbehörde entschieden, ob die Menschen ein Recht auf Asyl haben. Wo kein Grund vorliegt, folgt die Abschiebung. Haitianer und Leute aus der Dominikanischen Republik werden sofort zurückgebracht, ihre Boote zerstört. Für Kubaner gilt ein Sonderrecht. Setzen sie einen Fuß am Strand auf trockenes Land, dürfen sie bleiben. Doch zunehmend kommen Menschen aus ganz anderen Weltgegenden, Chinesen zum Beispiel, die leichter ein Visum für die Bahamas bekommen als für die USA. Auch sie haben kaum eine Chance.

Karen Musalo in San Francisco kritisiert diese Praxis, die Asylgründe der Flüchtlinge so schnell zu bewerten, weil sie dazu führt, dass niemand mehr die Not der Menschen wahrnimmt.

Flüchtlinge verstecken sich

“Zum Beispiel diese Frau aus Afghanistan: Als sie am Flughafen einreisen wollte, fiel dem Grenzbeamten auf, dass ihre Papiere nicht in Ordnung waren.” Daraufhin habe er ihr gesagt, sie müsse eine begründete Angst formulieren, dann dürfe sie bleiben. “Sie sagte: Ich habe Angst vor meinem Nachbarn.” In Wahrheit war sie von einer Gruppe Männer vergewaltigt worden. Doch das auszusprechen, zumal einem fremden Mann gegenüber, war ihr unmöglich, auch als sie ein zweites Mal von einem Asylentscheider befragt wurde. Erst als ihr Fall vor Gericht ging, wagte sie es, ihre wahre Geschichte zu erzählen. Doch das Gericht glaubte ihr nicht, weil sie aus seiner Sicht zwei Mal gelogen hatte. “Man sieht, wie schwer es für Flüchtlinge ist, gleich an der Grenze das Richtige zu sagen”, sagt Musalo. Und wie schwierig, in verkürzten Verfahren zu richtigen Entscheidungen zu kommen.

So scheitert das amerikanische Selbstverständnis an der Wirklichkeit. Das lässige Jeder-wie-er-will funktioniert dann nicht, wenn Menschen Tabus brechen müssen, die in ihren Kulturen existieren. “Es gibt leider sehr viele Dinge, über die Menschen nicht so einfach sprechen können: Vergewaltigung, besonders von Männern, Inzest, Folter”, zählt Musalo auf.

Deshalb leben wohl viel mehr Flüchtlinge in den USA, als offiziell gezählt werden. Menschen, die es doch über den Zaun geschafft haben und nun als illegale Arbeitsmigranten gelten, in Wahrheit aber Gewalt und Verfolgung entflohen sind. Leute, die sich nicht mehr an ihre traumatisierenden Erlebnisse erinnern wollen und in einer der vielen ethnischen Communitys unterschlüpfen. “Es gibt viele Leute, von denen wir nicht wissen, ob sie nicht eigentlich einen guten Asylgrund haben”, sagt Musalo. Manchen von ihnen raten Menschenrechtsanwälte sogar, sich weiterhin zu verstecken. Denn wer nicht ein Jahr nach seiner Ankunft Asyl beantragt hat, muss auf jeden Fall ausreisen. Ganz gleich, wie gut seine Gründe sind.

Was also kann man von Amerika im Umgang mit Flüchtlingen lernen? Dass es gut ist, alle jene gründlich auszubilden, die Flüchtlingen helfen, in der neuen Gesellschaft anzukommen. Dass Menschen sich leichter integrieren, wenn sie arbeiten dürfen, und dass es nicht gut ist, den Weg dahin mit allzu vielen Regeln zu verstellen. Und das die Abwehr von Flüchtenden und flinkes Abfertigen schnell zu ungerechten Entscheidungen führen kann. Manchmal sogar zu tödlichen.

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