Wie Europa den geschenkten Liberalismus austreibt
Die liberale Verfasstheit Nachkriegs-Europas war im Wesentlichen durch die USA vorgegeben und garantiert. Nun leben alte Affekte wieder auf, in Gestalt rechts- und linksnationalistischer Bewegungen.
Der Beinahesieg von Marine Le Pen bei den französischen Kommunalwahlen könnte sich als ein nur aufgeschobener Triumph erweisen. Denn er ließ sich nur dadurch abwenden, dass die großen etablierten Parteien ihre Kräfte zusammenfassten – und damit den demokratischen Wettbewerb suspendierten.
Nicht nur rief das bei den Anhängern des Front National das erbitterte Gefühl hervor, um den ihnen eigentlich zustehenden Erfolg betrogen worden zu sein. Die konzertierte Aktion der vermeintlich verfeindeten demokratischen Lager verstärkte auch den Eindruck, dass die Vertreter der liberalen Demokratie mit dem Rücken zu Wand stünden. Die Propaganda der Rechtsextremisten, nach der sich die Epoche der “liberalistischen” Ordnung rasant dem Ende zuneige, erhält damit neue Nahrung und könnte ihnen erst recht weitere Wähler zutreiben.
Der Vormarsch rechts- und linksnationalistischer Bewegungen in Europa findet die Verfechter der westlichen transatlantischen Demokratie in einer Art Dauerdefensive vor. Wer ihn nur als Folge sozialer Verwerfungen und politischer Fehlentwicklungen der EU zu erklären versucht, greift zu kurz.
Diese Sicht geht von der Prämisse aus, die liberal-pluralistische Verfasstheit der modernen, in supranationale Strukturen eingebundenen europäischen Gesellschaften sei so etwas wie der der historischen Entwicklung entsprechende Normalfall und die Abwendung immer größerer Wählerschichten von ihren Prinzipien nur eine konjunkturelle Verirrung.
Tatsächlich drückt sich in den aktuellen antiliberalen Bewegungen ein tief sitzender Überdruss an dem Freiheitsmodell aus, wie es sich nach 1945 in West-, und nach 1989 auch in Osteuropa durchgesetzt hat. Dieses nagende Unbehagen an der liberalen Demokratie hat längst auch – womöglich gar vor allem – Teile der gesellschaftlichen Mitte erfasst. Es zeigt sich nun, dass Europa oder genauer: das kontinentale Europa aus sich heraus nur eine relativ schwache substanzielle Beziehung zum Liberalismus entwickelt hat.
Das Erbe des Zusammenbruchs
Der schmähliche Zusammenbruch der Demokratien Europas in den 30er-Jahren liegt, in großen historischen Zeiträumen betrachtet, noch nicht allzu weit zurück. Sein Erbe steckt den Europäern noch gleichsam in den Genen.
Die liberale und universalistische Verfasstheit Nachkriegseuropas war, ohne die Leistung der großen Pioniere der europäischen Einigungsvision schmälern zu wollen, im Wesentlichen durch die Anleitung der Vereinigten Staaten von Amerika vorgegeben und garantiert. Unterschwelliger Antiamerikanismus, der nicht nur an den politischen Rändern, sondern auch in den europäischen Eliten weiterwaberte, wurde durch die Einsicht unter dem Deckel gehalten, dass Europa ohne die amerikanische Vormacht dem sowjetischen Totalitarismus schutzlos ausgeliefert wäre.
Jetzt, ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Kriegs glaubt man zunehmend, den amerikanischen Schutz nicht mehr zu brauchen. Es kommt daher ein Ressentiment gegen die USA als einer vermeintlichen Unterdrückermacht zum Vorschein, die Europa und seine Nationen über Jahrzehnte an seiner Selbstentfaltung gehindert habe.
Damit wird auch die Aversion gegen das liberal-individualistische Gesellschaftskonzept reaktiviert, die in den 30er-Jahren die demokratische Phase nach dem Ersten Weltkrieg beendet hatte – eine Periode, die schon damals wesentlich vom amerikanischen demokratischen Missionarismus, verkörpert durch den US-Präsidenten Woodrow Wilson, initiiert worden war.
Die Etablierung des Faschismus in Italien signalisierte bereits wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, welch fragile Grundlagen die liberaldemokratische Idee in Europa besaß. Der Untergang der Weimarer Republik war kein isoliertes deutsches Phänomen, sondern lag gewissermaßen im Zeittrend. Als der Nationalsozialismus seinen Vernichtungskrieg begann, waren demokratische osteuropäische Staaten wie Polen bereits ins Autoritäre regrediert.
Einsamer britischer Widerstand
Frankreich brach unter dem Ansturm der deutschen Kriegsmaschinerie nicht nur aus militärischer Schwäche kläglich zusammen, sondern auch, weil seine demokratischen Abwehrkräfte weitgehend erloschen waren. Ohne den einsamen britischen Widerstand wäre die demokratische Idee wohl auf lange Zeit vom Kontinent getilgt worden.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war der Siegeszug der liberalen Demokratie in Europa keineswegs ein Selbstlauf. De Gaulle führte Ende der 50er-Jahre in Frankreich zeitweise ein halb autoritäres Regime ein. Die letzten Diktaturen in Westeuropa – Griechenland, Portugal, Spanien – fielen erst Ende der 70er-Jahre.
Und die vom Sowjetimperium geschluckten osteuropäischen Nationen konnten am europäischen Prozess demokratischer Selbstfindung jahrzehntelang überhaupt nicht teilnehmen. Dass sich am Ende das universalistisch-demokratische Modell scheinbar alternativlos durchsetzte, lag daran, dass sich die USA, anders als nach dem Ersten Weltkrieg, nicht wieder aus Europa zurückzogen.
Russland bietet scheinbare Alternative zur offenen Gesellschaft
Doch diese amerikanische Präsenz ist in den vergangenen Jahren spürbar schwächer geworden. Zugleich ist mit Putins Russland eine antiliberale Gegenmacht in Erscheinung getreten, die eine scheinbare Alternative zu dem von den USA gestifteten Modell der offenen, multiethnischen und pluralistischen Gesellschaft bietet.
Putins Autoritarismus bekennt sich dabei nicht offen zur Diktatur, sondern geriert sich als genuiner Vollstrecker des wahren kollektiven Volkswillens einer ethnisch homogenen Nation. Das trifft sich mit der Ideologie der westeuropäischen Neuen Rechten, bedient aber auch die “antiimperialistischen” Reflexe der extremen Linken, die in den USA die Quelle des Übels einer entfesselten kapitalistischen Globalisierung sehen.
Antiamerikanismus ist so nicht von ungefähr der gemeinsame Nenner aller “populistischen” Kräfte von rechts bis links. Er ist ihr stärkster, die beiden scheinbar entgegengesetzten Extreme am meisten verbindender ideologischer Antrieb. Eine Ausnahme bildet allenfalls die nationalkonservative Strömung in Polen, die zumindest außenpolitisch dezidiert proamerikanisch ist, weil sie westeuropäischen Beistandsbeteuerungen aus schlechter historischer Erfahrung nicht traut.
Die europäischen Demokratien aber werden dem Ansturm rechts- und linksautoritärer Kräfte nicht standhalten können, wenn sie nicht kämpferisch gerade auch zur transatlantischen Dimension ihrer Identität stehen. Denn das demokratische Projekt Europa ist ohne seinen amerikanischen Wesensanteil nicht denkbar.
Leave a Reply
You must be logged in to post a comment.